Offener Brief an die Landrätin des Kreises Marburg-Biedenkopf, Kirsten Fründt (SPD) – ‚Sozialpsychiatrischer Dienst‘ zuständig für Sexarbeiter/innen

Frankfurt, den 29.01.2019

An
Landrätin
Kirsten Fründt
c/o Kreisausschuss des Landkreises Marburg-Biedenkopf
Im Lichtenholz 60
35043 Marburg

Gesundheitliche Beratung nach § 10 ProstSchG

Sehr geehrte Frau Fründt,

erneut liegen dem Verein Doña Carmen e.V. Informationen vor, wonach im Gesundheitsamt des Kreises Marburg-Biedenkopf die mit dem Prostituiertenschutzgesetz eingeführten Zwangsberatungen von Sexarbeiter/innen von Mitarbeiter/innen des dortigen
‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ durchgeführt werden.

Die Abwicklung der gesundheitlichen Beratung von Sexarbeiter/innen durch Mitarbeiter des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ kann nur als behördliche Praxis der Diskriminierung einer ganzen Berufsgruppe gewertet werden. Sie ist zutiefst verwerflich und nicht hinnehmbar.

Angebote des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ richten sich in Hessen gemäß § 7 Abs. 3 HGÖGD an „Menschen mit psychischen Krankheiten, Abhängigkeitserkrankungen und seelischen und geistigen Behinderungen sowie hiervon bedrohte Menschen“.

Dass Sexarbeiter/innen aufgrund ihrer Berufsausübung per se in diese Kategorie gehören, wird niemand ernsthaft behaupten können.

Schon vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit, in der man Prostituierten aus politisch motiviertem Ressentiment „moralischen Schwachsinn“ attestierte, um sie anschließend als „Asoziale“ stigmatisieren, aufgreifen und internieren zu können, verbietet sich eine erneute Psychiatrisierung von Sexarbeiter/innen.

Aus diesem Grunde hatten wir Ihnen bereits vergangenes Jahr geschrieben:

„Indem Sie den ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ mit der gesundheitlichen Zwangsberatung von Sexarbeiter/innen nach § 10 ProstSchG betrauen, erklären Sie die Angehörigen einer gesamten Berufsgruppe, nämlich sämtliche Sexarbeiter/innen, pauschal für psychisch auffällig, behindert oder suchtkrank bzw. in diesem Sinne für bedroht.“

Dagegen haben Sie sich mit Schreiben vom 10.04.2018 verwahrt und behauptet, die mit der Gesundheitsberatung von Prostituierten betrauten Mitarbeiter/innen würden neben ihrer Tätigkeit „in anderen Gebieten“ einem „eigenständigen Arbeitsgebiet“ angehören, dessen Leitung zudem „bei einer Ärztin aus dem Infektionsschutz“ läge. Sie glaubten seinerzeit, die Kritik von Doña Carmen als bloße „Unterstellung“ abtun zu können und betonten den angeblich „wertschätzenden Kontext“, in dem die gesundheitliche Zwangsberatung von Prostituierten in Marburg stattfände.

Mit Verlaub, Frau Fründt, das waren – wie sich jetzt herausstellt – windige Ausflüchte und nichts weiter als der Versuch, Spuren zu verwischen. Sie geben die Unschuld vom Lande, bloß um sich berechtigter Kritik nicht stellen zu müssen.

Nachfolgende Tatsachen widerlegen Ihre Schutzbehauptungen:

1. Der Schriftverkehr des Marburger Gesundheitsamtes mit Prostituierten erfolgt stets und ausschließlich seitens Personen, die sich als Mitarbeiter/innen des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ ausweisen. Dessen Dienstleistungen aber bewirbt ein Flyer des Gesundheitsamtes wie folgt: „Beratung bei psychischer Erkrankung (Sozialpsychiatrischer Dienst) Beratung von Menschen mit psychischer Erkrankung und seelischer Behinderung sowie für deren Angehörige“. Aus diesem Kontext ergibt sich unstrittig, dass Sie Sexarbeiter/innen per se als „Menschen mit psychischer Erkrankung“ einsortieren und diese problematische Zuordnung damit zumindest billigend in Kauf nehmen.

2. Für die Durchführung der gesundheitlichen Beratung von Prostituierten sind Frau Stefanie Grebe und Frau Bianca Fiedler zuständig. Beide sind Mitarbeiterinnen des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ im Gesundheitsamt Marburg.

3. Im Mailverkehr des Amtes, in dem es um die Anmeldung von Sexarbeiter/innen geht, werden gerne Herr Christof Happel und Frau Dr. Marion Heuer ins CC aufgenommen. Herr Happel ist Sozialarbeiter beim ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘, Frau Dr. Heuer ist als Fachärztin für Psychiatrie zugleich die verantwortliche Fachdienstleistung des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ im Gesundheitsamt des Landkreises Marburg-Biedenkopf.

4. Die telefonische Anmeldung für einen Termin zur Gesundheitsberatung von Sexarbeiter/innen hat ausweislich der Website des Gesundheitsamtes über die Nummer 06421/4054131 zu erfolgen. Das ist die Telefonnummer von Frau Gisela Müller, die im Gesundheitsamt der Stadt Marburg das Sekretariat des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ betreut.

Fazit: Damit sind sämtliche fünf Mitarbeiter/innen des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ des Gesundheitsamts in Marburg in die gesundheitliche Beratung von Sexarbeiter/innen involviert: Frau Dr. Heuer, Herr Happel, Frau Grebe, Frau Fiedler und Frau Müller.

Wenn Sie, Frau Fründt, nichtsdestotrotz glaubten uns mitteilen zu müssen, dass die Prostituiertenberatung im Gesundheitsamt Marburg ein „eigenständiges Arbeitsgebiet“ repräsentiere, mithin keinen Bezug zum ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ habe, so war das schlicht ein Verleugnen von Tatsachen und eine gezielte Desinformation.

Ihnen ist sehr wohl bewusst, dass die Abwicklung der gesundheitlichen Zwangsberatung von Prostituierten durch Mitarbeiter/innen des „Sozialpsychiatrischen Dienstes“ in hohem Maße problematisch ist. Deshalb Ihre ganzen Ausflüchte. Das ist nicht in Ordnung.

Es liegt uns gänzlich fern, die Qualifikation der genannten Mitarbeiter/innen des Gesundheitsamts Marburg in Frage zu stellen. Darum geht es nicht.

Worum es uns geht, ist die desaströse Außenwirkung, die eine Zuordnung der Gesundheitsberatung von Sexarbeiter/innen zur Einrichtung des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ zwangsläufig haben muss. Es handelt sich um eine institutionelle Diskriminierung des betroffenen Personenkreises, die aus sachlichen Gründen sowie aufgrund der genannten historischen Bezüge nicht akzeptabel ist.

Uns ist bekannt, Frau Fründt, dass Sie 2015 in Ihrer Eigenschaft als Landrätin des Landkreises Marburg-Biedenkopf einem in Marburg tagenden Anti-Prostitutions-Kongress ihre „freundliche Unterstützung“ zuteilwerden ließen. Wir gehen also sicherlich nicht fehl in der Annahme, dass Sie Prostitutionsgegnerin sind. Das ist Ihr gutes Recht, die Meinungen diesbezüglich gehen bekanntlich auseinander.

Sie haben jedoch nicht das Recht, Ihre persönliche Prostitutionsgegnerschaft durch Praktiken institutioneller Diskriminierung in der Ihnen unterstellten Behörde Ausdruck zu verleihen. Insofern ist das fortgesetzte Dulden einer Abwicklung der gesundheitlichen Zwangsberatung von Prostituierten über den ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘ ein inakzeptabler politischer Machtmissbrauch, den wir – sollte er beibehalten werden – schonungslos anprangern werden.

Wir fordern Sie hiermit auf, die unsägliche Befassung von Mitarbeiter/innen des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ mit der gesundheitlichen Zwangsberatung von Prostituierten umgehend zu beenden und die zuständige Amtsleiterin des Gesundheitsamts, Frau Dr. Wollenberg, anzuweisen, in diesem Sinne tätig zu werden.

Darüber hinaus geböte es der Anstand, sich für das Dulden der hier publik gemachten, unseres Wissens bundesweit einmaligen Form der behördlichen Diskriminierung von Sexarbeiter/innen öffentlich zu entschuldigen. Schließlich tragen Sie dafür die politische Verantwortung.

Mit freundlichen Grüßen

Juanita Henning

Sprecherin Doña Carmen e.V.

PS.
Den Mailwechsel einer Sexarbeiterin mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes Marburg-Biedenkopf finden Sie unten im nachfolgend wiedergegebenen „Offenen Brief“:

02 OFFENER BRIEF MR