Offener Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn

 

An Gesundheitsminister
Herrn Jens Spahn
c/o Bundesministerium für Gesundheit
Friedrichstraße 108

10117 Berlin

An die
Leiter/innen & Mitarbeiter/innen der Gesundheitsämter

6-Punkte-Forderungskatalog:
Einleitung von Sofortmaßnahmen zur Unterstützung der von Bordell-Schließungen betroffenen Sexarbeiter/innen!

Sehr geehrter Herr Minister Spahn,
sehr geehrte Leiter/innen & Mitarbeiter/innen der Gesundheitsbehörden,

im Zuge der Bekämpfung der Corona-Pandemie hat eine Reihe von Bundesländern und Städten die Schließung von Prostitutionsstätten bzw. das vollständige Verbot der Ausübung von Prostitution verfügt.

Wir gehen davon aus, dass weitere Verbote auf das Prostitutionsgewerbe und somit weitere Einschränkungen der Grundrechte auf Sexarbeiter/innen zukommen werden.

Für die von diesen drastischen Maßnahmen betroffenen Sexarbeiter/innen bedeutet das eine massive Gefährdung ihrer materiellen und sozialen Existenz. Sie bringen Verunsicherung und haben großes persönliches Leid zur Folge.

Wir erwarten, dass die politisch Verantwortlichen nicht die Augen davor verschließen und alles unterlassen, was auf eine Entsolidarisierung mit den betroffenen Sexarbeiter/innen hinausläuft.

Bekanntlich unterliegen Sexarbeiter/innen seit Einführung des Prostituiertenschutzgesetzes im Juli 2017 einer Registrierungspflicht, die sie zwingt, in regelmäßigen Abständen („engmaschig“) bei Gesundheits- und Ordnungsbehörden persönlich vorzusprechen, um sich registrieren, sich über ihre Pflichten beraten und sich einen Hurenpass ausstellen zu lassen.

Heute, nach zweieinhalb Jahren der Umsetzung dieser Politik wissen wir: Dieses Gesetz hat nicht zur Aufdeckung der allenthalben vermuteten „Zwangsprostitution“ geführt, zu dessen Verhinderung es nach Angaben des Gesetzgebers eingeführt wurde. Wo man auch hinschaut: Zwangsprostitution? – Fehlanzeige! Diesbezüglich ist das Gesetz ein Flop und gehört unseres Erachtens abgeschafft.

Doña Carmen e.V. gehört von Anbeginn zu den entschiedenen Kritikern der mit dem Prostituiertenschutzgesetz eigeführten Regelungen. Sie widersprechen z. B. Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie, wonach Formalitäten zur Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit „problemlos aus der Ferne“ abgewickelt werden sollten, nicht aber durch angeordnetes persönliches Erscheinen bei den Behörden. Art 16 Abs. 2e der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie stellt zudem klar, dass keine Dienstleisterin in der EU der Pflicht unterliegen darf, „sich von ihren zuständigen Behörden einen besonderen Ausweis für die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit ausstellen zu lassen.“ Diese Vorgabe wird durch die Praxis des Hurenpasses unterlaufen.

Aber auch gewichtige medizinische Gründe sprechen gegen die Zwangsregistrierung von Sexarbeiter/innen und die ihnen in diesem Zusammenhang auferlegten Formalitäten und Zwänge. Darauf haben seinerzeit zu Recht der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitswesens, der Deutsche Ärztetag 2016, die Deutsche STI-Gesellschaft, die Deutsche Aidshilfe sowie die Amtsleiter/innen von 25 großstädtischen Gesundheitsämtern hingewiesen.

Aus den früheren Kampagnen zu HIV/AIDS ist hinlänglich bekannt, dass Zwang kein geeignetes Mittel zur Verbreitung präventiver Botschaften ist und nur dazu führt, das gebotene Vertrauensverhältnis zwischen Gesundheitsbehörden und den von Krankheiten und Ansteckung Betroffenen zu untergraben.

Angesichts der gegenwärtigen Bedrohung durch das Corona-Virus ist es bitter, dass die seinerzeit vorgetragene Kritik am Prostituiertenschutzgesetz bei der Bundesregierung kein Gehör gefunden hat. Umso notwendiger ist es, im Kampf gegen die Bedrohung durch das Corona-Virus alte Entscheidungen auf den Prüfstand zu stellen und den Mut zu finden, Fehlentscheidungen zu korrigieren.

Doña Carmen e.V. hält es für grundfalsch, Prostitutionsbetriebe einfach zu schließen und die davon massiv betroffenen Sexarbeiter/innen einfach sich selbst zu überlassen bzw. an bisherigen Zwangsmaßnahmen, die sich als unproduktiv erwiesen haben, weiterhin kritiklos festzuhalten.

Im Interesse einer effektiven und erfolgreichen Bekämpfung der Corona-Pandemie und im Interesse der von Betriebsschließungen massiv betroffenen Sexarbeiter/innen fordern wir von der Bundesregierung und den Landesregierungen die Umsetzung der nachfolgend genannten dringend erforderlichen Sofortmaßnahmen:

1. Unbürokratische Entschädigungszahlungen an Sexarbeiter/innen!

Zuständige Behörden in den Kommunen und Bundesländer, die jetzt flächendeckend von Verbotsverfügungen gegenüber Prostitutionsbetrieben Gebrauch machen, sind aufgefordert, in unbürokratischer Form Entschädigungszahlungen an die betroffenen Sexarbeiter/innen zu ermöglichen, sodass sie nicht gezwungen sind, zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Grauzonen ihrer Tätigkeit nachzugehen, obgleich sie das unter Umständen für zu risikoreich halten.

2. Sofortige Einstellung des „Düsseldorfer Verfahrens“ & Stundung der Steuer-Vorauszahlungen bei selbständiger Sexarbeit!

Das aus unserer Sicht illegale, auf keiner gesetzlichen Grundlage basierende, ausschließlich im Prostitutionsgewerbe praktizierte Verfahren täglicher Pauschalvorauszahlung von Steuern ist umgehend einzustellen. Es ist in vielen uns bekannten Fällen seit Jahren dafür verantwortlich, dass Sexarbeiter/innen, die sich daran beteiligen, irrigerweise der Auffassung sind, ihre Steuerschuld sei damit beglichen. In der Folge können viele Sexarbeiter/innen im Zusammenhang der Schließung von Bordellen eine für die Entschädigung nach § 56 Infektionsschutzgesetz erforderliche Bescheinigung der Finanzbehörden nicht vorlegen.

Darüber hinaus sind Steuer-Vorauszahlungen in 2020 für selbständige Sexarbeiter/innen zu stunden.

Im Interesse des effektiven Schutzes der körperlichen Unversehrtheit von Sexarbeiter/innen und ihrer Kunden fordern wir von der Bundesregierung, von den Landesregierungen sowie von allen Verantwortlichen in den zuständigen örtlichen und Kreisgesundheitsämtern, folgende weitere Maßnahmen umgehend einzuleiten:

3. Sofortige Aufhebung des Zwangs zum persönlichen Erscheinen bei Gesundheits- und Ordnungsbehörden!

Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie ist es Sexarbeiter/innen nicht zuzumuten weiterhin persönlich bei Behörden vorzusprechen, da soziale Kontakte ja bekanntlich auf ein Minimum beschränkt werden sollen, um die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen.

Eine weitere Vergeudung der ohnehin knappen, weil seit Jahren zusammengesparten personellen Ressourcen in den Gesundheitsämtern verbietet sich. Daher ist die Fortführung des gänzlich überflüssigen Registrierungs-Zirkus mit Sexarbeiter/innen einzustellen. Das ist im Interesse der betroffenen Prostituierten, im Interesse der Mitarbeiter/innen der Gesundheitsämter als auch im Interesse der Allgemeinbevölkerung.

Wir sagen ganz deutlich: Wer meint, der hier vertretenen Position mit Verweis auf hohe Registrierungszahlen begegnen zu müssen und sie als Indiz für einen vermeintlichen Erfolg der Sexarbeiter-Registrierung zu deuten, befindet sich im Irrtum. Denn jede/r in den Gesundheitsämtern weiß nur zu gut, dass die Betroffenen nur noch aufgrund von Zwang und nur noch deshalb in die Räumlichkeiten der Gesundheitsbehörden kommen, weil sie von den um ihre Konzessionierung bangenden Bordellbetreiber/innen mit Nachdruck dorthin geschickt werden. Eine solche Praxis ist aus gesundheitspolitischer Sicht kurzsichtig und alles andere als nachhaltig.

4. Keine Stigmatisierung von Sexarbeit durch Zwangsberatungen in der Verantwortlichkeit eines ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘!

Wer es mit der Gesundheitsversorgung von Sexarbeiter/innen wirklich ernst meint und zwischen ihnen und den Gesundheitsbehörden nicht künstlich Barrieren errichten will, muss mit der jüngst einreißenden Praxis von Zwangsberatungen in der Verantwortung des „Sozialpsychiatrischen Dienstes“ Schluss machen. So wird gegenwärtig verfahren von den Gesundheitsämtern des Kreises Marburg-Biedenkopf, des Main-Kinzig-Kreises sowie in den Städten Offenbach und Remscheid. In der Prostitution tätige Menschen sind nicht psychisch krank. Alles andere ist Amtsmissbrauch durch Stigmatisierung der Betroffenen und ist umgehend einzustellen.

Im Interesse einer angemessenen gesundheitlichen Versorgung von Sexarbeiter/innen fordern wir darüber hinaus:

5. Ausbau der freiwilligen, anonymen, kostenlosen Gesundheitsberatung nach  § 19 Infektionsschutzgesetz – Jetzt!

Anstatt des aufwändigen Registrierungszirkus sollte in den Gesundheitsämtern wieder Wert auf Vertrauen gelegt werden und die freiwillige, anonyme, kostenlose Beratung nach § 19 Infektionsschutzgesetz ausgebaut und offensiv angeboten werden. Alles andere wäre eine Missachtung und Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit von Sexarbeiter/innen.

6. Abschaffung sämtlicher Gebühren- und Strafzahlungen im Zusammenhang  der Zwangsregistrierung von Sexarbeiter/innen

Man kann Sexarbeiter/innen nicht auf der einen Seite durch behördliche Maßnahmen wie die flächendeckende Schließung von Prostitutionsstätten außer Brot setzen und ihnen andererseits für Registrierung, Aliasbescheinigungen und Folgeanträge bis zu dreistellige Eurobeträge abknöpfen. Insbesondere das ausschließlich in Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern betriebene Abkassieren von Gebühren für die gesundheitliche Zwangsberatung von Sexarbeiter/innen nach dem Prostituiertenschutzgesetz ist ein Unding! Sämtliche Gebühren im Zusammenhang der Prostituierten-Zwangsregistrierung sind umgehend auf Null zu setzen.

Angesichts der aktuell massiven Maßnahmen gegen Prostitution im Zusammenhang der Bekämpfung der Corona-Pandemie muss Schluss sein mit einer übermäßigen finanziellen Belastung von Sexarbeiter/innen durch Strafzahlungen bei Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang des Prostituiertenschutzgesetzes. Dies würde die Betroffenen nur noch weiter in die Illegalität drängen und sie für medizinische Prävention unerreichbar machen.

Sehr geehrter Herr Minister Spahn, wir möchten Sie bitten, die hier vorgetragenen Forderungen wohlwollend zu prüfen und erwarten, dass Sie alles in Ihrer Kraft liegende unternehmen, diese Vorschläge schnell und unbürokratisch umzusetzen. Wir bitten Sie sowie die Verantwortlichen in Landesregierungen, Kommunen und Kreisen alles Notwendige zu veranlassen, dass Sexarbeiter/innen diesbezüglich mehrsprachig informiert werden, damit sie nicht nur hinsichtlich ihrer Pflichten, sondern auch hinsichtlich ihrer Rechte im Bilde sind.

Jenseits dieser kurzfristig umzusetzenden Maßnahmen fordert Doña Carmen e.V. mittelfristig gesetzliche Initiativen der Bundesregierung. Dazu gehören die

Änderung des § 19 Infektionsschutzgesetz: Garantierter Rechtsanspruch auf freiwillige, anonyme und kostenfreie STI-Beratung und sowie aufsuchende Arbeit in allen 81 bundesdeutschen Großstädten mit über 100.000 Einwohnern! Einsatz von medizinisch ausgebildetem Fachpersonal bei der Beratung von Sexarbeiter/innen!

Abschaffung des Prostituiertenschutzgesetzes: Für eine vollständige Legalisierung von Prostitution auf Grundlage einer rechtlichen Gleichbehandlung mit anderen Berufen!

In Erwartung einer zügigen Prüfung und Billigung der hier vorgetragenen Forderungen und Vorschläge verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Juanita Henning

(Sprecherin von Doña Carmen e.V.)