Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags

Rechte und Respekt für Sexarbeit – Keine Zustimmung zum „Prostituiertenschutzgesetz“!

Sehr geehrte Damen und Herren,

am 2. Juni 2016 findet im Deutschen Bundestag die erste Lesung des so genannten „Prostituiertenschutzgesetzes“ statt.

Als Organisation, die seit nahezu zwei Jahrzehnten mit Frauen in der Prostitution, darunter viele Prostitutionsmigrantinnen, zu tun hat, nehmen wir diese Gelegenheit zum Anlass, uns direkt an Sie zu wenden.

Sie haben als gewähltes Mitglied des Bundestags die Möglichkeit, Ihr Missfallen gegen den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zu bekunden und ihm die Zustimmung zu verweigern. Darin möchten wir Sie bestärken. Wir möchten Sie an Ihre Verantwortung erinnern – wohl wissend, dass Sexarbeiter/innen eine gesellschaftliche Minderheit sind, deren Schicksal Sie persönlich nicht unbedingt interessieren muss.

Doch da der Umgang mit Minderheiten – wie Ihnen bekannt sein dürfte – schon immer ein untrüglicher Gradmesser für das faktische Gelten von Freiheitsrechten ist, sollte es Ihnen nicht gleichgültig sein, was das von der Großen Koalition geplante „Prostituiertenschutzgesetz“ mit den Betroffenen macht.

Der von der CDU/CSU/SPD-Bundesregierung vorgelegte „Entwurf eines Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“ (Drucksache 18/8556 vom 25.05.2016) unterstellt in fragwürdiger Weise als Leitbild eine nur in Ausnahmefällen selbstbestimmt handelnde Sexarbeiterin. Sexarbeit gilt in ihrer Mehrheit als fremdbestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Schaffung zahlloser Kontrollanlässe, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, als „Schutz“ der Betroffenen und als Gewähr für ein selbstbestimmtes Handeln erscheinen.

Die Grundannahme einer weitgehend fremdbestimmt tätigen Sexarbeiterin ist aber durch keine sozialwissenschaftliche, empirisch fundierte Studie gestützt. Es handelt sich daher um eine wohlfeile Unterstellung mit dem Ziel, eine Politik zu legitimieren, die eine gesamte Berufsgruppe unter Ausnahmerecht stellt. Und davon macht der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung reichlich Gebrauch.

Das in Kürze zur Abstimmung stehende „Prostituiertenschutzgesetz“

  • – beinhaltet eine 50-fache rechtliche Ungleichbehandlung von Prostitution im Vergleich zu anderen selbständig ausgeübten Gewerben (vgl. https://www.donacarmen.de/wp-content/uploads/Rechtliche-Ungleichbehandlung-des-Prostitutionsgewerbes.pdf);
  • – basiert auf kalkuliertem Rechtsbruch zum Zwecke der Eindämmung von Prostitution. Beispielhaft sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, dass die geplante Meldepflicht für Sexarbeiter/innen gegen Art. 8 Abs. 4 der EU-Richtlinie 95/46/EG verstößt, die EU-Mitgliedstaaten die Verarbeitung personenbezogener Daten u.a. zum Sexualleben untersagt. Verwiesen sei des Weiteren darauf, dass die Pflicht zum persönlichen Erscheinen im Zuge der geplanten Anmeldung bzw. Verlängerung der Anmeldung zur Sexarbeit gegen Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Dienstleistungsrichtlinie verstößt (elektronische Abwicklung der Aufnahme oder die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit).
  • – zwingt Sexarbeiter/innen knapp 40 Verpflichtungen auf, deren Einhaltung die grundrechtlich gewährte Berufsfreiheit zur Karikatur werden lässt und die Betroffenen in die Illegalität drängen wird (vgl. https://www.donacarmen.de/wp-content/uploads/Pflichten-von-SexarbeiterInnen-und-BordellbetreiberInnen.pdf);
  • – etabliert mit jeder dieser Verpflichtungen entsprechende Kontroll- und Sanktionsanlässe, bestens geeignet, die Betroffenen nach Bedarf behördlichen Schikanen auszusetzen; hinzu kommen etliche Betreiber-Pflichten, da bereits jede ab zwei Sexarbeiter/innen genutzte Wohnung als betreibergeführter Gewerbebetrieb eingestuft wird;
  • – unterwirft Sexarbeiter/innen fortan auf Schritt und Tritt einer von Staat und Bordellbetreiber/innen ausgeübten Überwachung;
  • – ebnet einer auf Denunziation gegründeten Verdachtskultur den Weg, wenn Wohnungen zwecks Kontrolle vermuteter Prostitutionsausübung von Polizei- und Ordnungsbehörden jederzeit anlasslos betreten werden können.

Auf nationalem Maßstab wird damit ein polizeilich betreutes Anbieten sexueller Dienstleistungen zur Norm. Wie zu Zeiten des deutschen Kaiserreichs!

Ist dieser Umgang mit Sexualität mündiger erwachsener Bürger das, was Ihnen als Mitglied des Deutschen Bundestags als Vision einer zukünftigen Gesellschaft vorschwebt?

Der vorliegende Gesetzentwurf der Großen Koalition ebnet den Weg für eine gesundheitliche Zwangsberatung, für eine behördliche Zwangsregistrierung betroffener Frauen wie zuletzt 1939 unter den Nazis, für ein Zwangsouting der Betroffenen, für eine erniedrigende, in das Intimleben erwachsener Menschen eingreifende Zwangskondomisierung. Wann hat es je einen solch vielfältigen, staatlich geschaffenen Zwang in der Prostitution gegeben?

Seien Sie versichert: Sämtliche Organisationen der Sexarbeiter/innen und sämtliche Organisationen, die auf Erfahrungen im Umgang mit Sexarbeiter/innen verweisen können, lehnen den vorgelegten Gesetzentwurf entschieden ab. Denn es steht ihm auf die Stirn geschrieben: Es ist nichts weiter als ein Anti-Prostitutions-Gesetz. Sie werden nicht eine einzige Sexarbeiter/in finden, die diesem repressiven Gesetzeswerk etwas abgewinnen kann.

Glauben Sie als Bundestagsabgeordnete/r also nicht alles, was man Ihnen über das „Prostituiertenschutzgesetz“ erzählt! Auch wenn Parteikolleg(inn)en den „Schutz der Prostituierten“ ansprechen: Misstrauen Sie dem! Denn es ist nichts anderes als eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Der vorliegende Gesetzentwurf soll mitnichten Prostituierte vor Zwang und Gewalt, er soll vielmehr die Gesellschaft vor Prostitution schützen. Mit ihm wird wieder Moral zur Richtschnur von Recht und Gesetz.

Wie können Sie diesen Rückfall in längst vergangen geglaubte Zeiten mit ihren politischen Grundüberzeugungen und ihrem Gewissen vereinbaren? Wie soll ein Gesetz, das darauf abzielt, den Lebensentwurf bestimmter Bevölkerungs-kreise für allgemein verbindlich zu erklären, zu einer pluralistisch verfassten Gesellschaft passen?

Prostitution bildet „nicht selten das Milieu für erhebliche Straftaten (Menschenhandel, Rauschgifthandel, Waffen- und Falschgelddelikte usw.), die mit einem hohen Organisationsgrad begangen werden. Aus Ermittlungssicht kommt erschwerend hinzu, dass dieser Bereich zunehmend von ausländischen Tätergruppierungen dominiert wird (Sprach- und Kulturbarrieren). Der Staat darf vor diesem Bereich nicht länger die Augen verschließen. Es ist menschenverachtend, wenn wir so tun, als ob alles in Ordnung ist, weil in der Theorie alles geregelt ist.“

Macht es Sie nicht nachdenklich, dass diese hier zitierte Passage aus dem Entwurf des Parteiprogramms der „Alternative für Deutschland“ (AfD) allenthalben auswechselbar ist und sich in nahezu gleichlautender Formulierung in sämtlichen entsprechenden Statements von CDU/CSU, von SPD und GRÜNEN findet?

Hier wie dort wird verschwiegen, dass einschlägige Delikte in diesem Bereich seit Langem rückläufig sind. Die erst vor wenigen Tagen veröffentlichte „Polizeiliche Kriminalstatistik 2015“ bestätigt einen imposanten Rückgang hinsichtlich aller Kennziffern bei so genannten „Rotlicht-Delikten“. Bei „Menschenhandel“ (§ 232 StGB) dokumentiert die offizielle Statistik für den Zeitraum 2000 – 2015 eine Halbierung sämtlicher einschlägiger Kennziffern (Fälle, mutmaßliche Opfer, Tatverdächtige). Das Verhältnis „Tatverdächtige im Verhältnis zu mutmaßlichen Opfern“ liegt seit Jahrzehnten bei etwas über 1: 1, sodass hier die Rede von „organisierter Kriminalität“ bzw. „ausländischen Tätergruppierungen“ (AfD) ein bewusst verzerrtes Bild der Realität liefert.

Noch eindeutiger sind die Verhältnisse in der EU. Laut jüngstem EUROSTAT-Bericht vom 19. April 2016 gibt es in der EU bezogen auf die mehr als 500 Millionen Einwohner in den beiden letzten Jahren jeweils 7.923 mutmaßliche (noch nicht einmal gerichtlich bestätigte) Opfer. Ein klarer Rückgang gegenüber den vorhergehenden Jahren! Mit einer Rate zwischen 0,3 und 0,2 Verurteilungen pro 100.000 Einwohner erweist sich der so genannte „Menschenhandel“ als eine der seltensten Kriminalitätsarten – ganz im Gegensatz zur schrillen Anti-Menschenhandels-Hysterie der offiziellen EU-Politik sowie abolitionistischer Hass-Predigerinnen, die meinen, an ihrem Lebensentwurf müsse die Welt genesen.

All diesen unbestreitbaren Fakten zum Trotz plädieren die Fraktionsspitzen der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD für eine „Erlaubnisplicht für Prostitutionsgewerbe“ und für jederzeitige, verdachtsunabhängige und anlasslose Kontrollen. Sie haben sich damit eine fixe Idee des BKA aus dem Jahre 1993 zu Eigen gemacht! Sie haben sich mit dem Segen der Kirchen von oberen Polizeibehörden und Innenministerien einwickeln lassen und sich ein lupenreines Polizeigesetz in die Feder diktieren lassen. Was für ein Armutszeugnis!

Selbst Ausschüsse des Bundesrats sowie der Deutsche Juristinnenbund (djb) halten die Luft an und attestieren u.a. dem § 11 ProstSchG („Anordnungen gegenüber Prostituierten“), in seiner jetzigen Form mit der Verfassung nicht vereinbar zu sein. Gleiches dürfte auch für andere Gesetzes-Paragrafen gelten. Denn § 11 ProstSchG steht nur stellvertretend für den durch und durch repressiven Geist, der den vorliegenden Gesetzentwurf in Gänze auszeichnet.

Wenn es um Prostitution geht, schwärmen Politiker/innen aller Parteien geradezu verzückt vom Ideal der Selbstbestimmung. Wohlan! Wenn Ihnen dieser Grundsatz als Bundestagsabgeordnete/r wirklich am Herzen liegt, zögern Sie keinen Augenblick und gehen Sie mit gutem Beispiel voran! Es heißt, Sie hätten sich gemeinhin dem Fraktionszwang zu beugen und müssten Ihre persönlichen Überzeugungen dem unterordnen. Haben Sie jetzt den Mut und verweigern Sie sich einer Fremdbestimmung durch die in jeder Hinsicht unangemessenen Festlegungen Ihrer Fraktionsspitze! Zeigen Sie, dass Sie es mit der Selbstbestimmung wirklich ernst meinen!

Auch wenn Sie Ihre persönliche Wertschätzung, ihr politisches Wohlergehen und ihre materiellen Versorgungsansprüche als Bundestagsabgeordnete/r in hohem Maße der Unterordnung unter den Fraktionszwang Ihrer Partei verdanken: Widerstehen Sie an diesem Punkt der Versuchung einer Fremdbestimmung! Entscheiden Sie autonom! Leben Sie vor, was man Sexarbeiter/innen predigt! Stimmen Sie mit ‚Nein‘, wenn es darum geht, hierzulande 200.000 Frauen einem repressiven Kontroll-Gesetz zu unterwerfen!

Gerade migrantischen Sexarbeiter/innen wird gerne nachgesagt, sie seien leichtgläubig, fallen auf allerlei Täuschungen herein und folgen unbesehen den Verlockungen des leicht verdienten Geldes. Dem müsse man entgegentreten.

Gehen Sie als Bundestagsabgeordnete/r auch hier mit gutem Beispiel voran!
Vertrauen Sie nicht leichtgläubig der allzu durchsichtigen medialen Inszenierung von Deutschland als dem „Bordell Europas“. Misstrauen Sie den Horror-Szenarien einer massenhaften Flutung des Prostitutionsgewerbes durch fremdgesteuerte Armutsmigratinnen! Billigen Sie auch ausländischen Frauen die Befähigung zu rationalen Entscheidungen zu! Fallen Sie nicht herein auf die Legende, Frauen in der Prostitution seien nichts als „hilflose Opfer“, außerstande im Falle von Zwängen sich selbst zu helfen.

Stimmen Sie also mit ‚Nein‘, wenn man Ihnen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen die Zustimmung zu einem Gesetz abnötigt, das unter dem Strich einer gesellschaftlichen Ächtung von Prostitution gleichkommt!
Oder können Sie es als Bundestagsabgeordnete/r mit Ihrem Gewissen vereinbaren, dass Sexarbeiter/innen hierzulande zu Tausenden per Gesetz in die Illegalität gezwungen und damit de facto für vogelfrei erklärt werden?

Und bedenken Sie bitte: Die Ächtung der Prostitution ist erfahrungsgemäß nur der Einstieg in einen erneuten repressiven Umgang mit Sexualität auch jenseits von Prostitution. Finden Sie das wünschenswert? Ist das Ihr Ideal einer zukünftigen, freien Gesellschaft?

Doña Carmen e.V. hat anlässlich des Inkrafttretens des rot-grünen Prostitutions-gesetzes im Jahre 2002 erklärt, es handele sich dabei um ein „Schaufenstergesetz“, das die realen Probleme des Prostitutionsgewerbes nicht löse. Wir haben mit unserer damaligen Einschätzung Recht behalten. Aber hören wollte das selbstverständlich niemand. Heute, vierzehn Jahre später, fällt unsere Bewertung des vorliegenden Entwurfs für ein „Prostituiertenschutzgesetz“ nicht minder desaströs aus. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Das jetzt vorliegende Polizeigesetz zu Prostitution werden sich die Betroffenen nicht bieten lassen! Bitte bedenken Sie das!

Wir appellieren an Sie als Bundestagsabgeordnete/r, die nicht nur von unserer Seite, sondern auch von vielen anderen gesellschaftlichen Organisationen vorgetragene Kritik ernst zu nehmen.

Deshalb:

  • – Geben Sie den Sexarbeiter/innen Rechte, statt Behörden und Polizei immer mehr Kontrollrechte!
  • – Treten Sie gemeinsam mit den Betroffenen für die rechtliche Gleichbehandlung von Prostitution mit anderen Gewerben ein!
  • – Tragen Sie mit dazu bei, dass diskriminierendes Ausnahmerecht und das nach wie vor bestehende Sonderstrafrecht gegen Prostitution endlich der Vergangenheit angehört!

Kurzum: Verweigern Sie dem so genannten „Prostituiertenschutzgesetz“ in Gänze Ihre Zustimmung!

Mit freundlichen Grüßen

Juanita Henning
Sprecherin Doña Carmen e.V.