Prostituiertenschutzgesetz: Europäischer Menschenrechtsgerichtshof verweigert Befassung mit Klage gegen Deutschland

Europäische Menschenrechte gelten nicht für Sexarbeiter/innen

Mit der Entscheidung vom 5. Dezember 2019 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg es abgelehnt, sich mit der dort anhängigen Klage gegen das deutsche Prostituiertenschutzgesetz (Application no. 8557/19) zu befassen.

Die Entscheidung hat der französische Richter André Potocki allein getroffen. Andere Richter waren nicht involviert. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar. Die Begründung für die Weigerung des Straßburger Gerichts lautet:

 „The court finds that domestic remedies have not been exhausted as required by  Article 35 § 1 of the Convention, since the applicants failed to raise before competent domestic authorities, either in form or in substance and in accordance with the  applicable procedural requirements, the complaints that were made to the Court. The Court declares the application inadmissible.”

Hintergrund: Am 5. Februar 2019 wurden auf Initiative von Doña Carmen e.V. die Klagen einer Sexarbeiter/in, der Betreiberin eines Wohnungsbordells, der Betreiberin eines Laufhauses, einer Tantra-Masseurin sowie eines  Prostitutionskunden gegen das seit 2017 in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz beim Straßburger Menschenrechtsgerichtshof eingereicht. Ausschlaggebend dafür war der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Juli 2018, eine von 25 Kläger/innen eingereichte Verfassungsbeschwerde gegen das Prostituiertenschutzgesetz wegen angeblich „unzureichender Begründung“ nicht zur Entscheidung anzunehmen. Daraufhin wandte sich ein Teil der Kläger/innen wegen Verletzung von Art. 6 EMRK („Recht auf ein faires Verfahren“) sowie wegen Verletzung des aus Art. 8 Abs. 1 EMRK („Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“) abzuleitenden Rechts auf informationelle Selbstbestimmung an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof.

Die Begründung für die erneute Nichtbefassung mit der Klage gegen das Prostituiertenschutzgesetz ist bemerkenswert: Diesmal wird den Kläger/innen vorgehalten, sie hätten den innerstaatlichen Rechtsweg nicht ausgeschöpft, was gemäß Art. 35 EMRK Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Klage in Straßburg ist. Diese Begründung ist mehr als skurril: Denn das eine Mal gilt dem EGMR der innerstaatliche Rechtsweg als „nicht ausgeschöpft“, weil man das nationale Verfassungsgericht nicht angerufen hat, das andere Mal, obwohl man es angerufen hat.

Man erinnere sich: 2016 wurde vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof die Klage einer nach dem Putschversuch in der Türkei inhaftierten türkischen Richterin abgewiesen. Man hielt ihr vor, sie hätte zunächst den „innerstaatlichen Rechtsweg ausschöpfen“ müssen. Das sei nicht der Fall gewesen, weil sie zuvor nicht das türkische Verfassungsgericht angerufen habe. (Urt. v. 17.11.2016, Az. 56511/16).

Bei der von Doña Carmen e.V. initiierten Klage gegen das Prostituiertenschutzgesetz wird das angebliche „Nichtausschöpfen des innerstaatlichen Rechtswegs“ ebenfalls als Grund für eine Nichtannahme der Klage ins Feld geführt, obwohl die Kläger/innen zuvor das Bundesverfassungsgericht angerufen haben.

Den Kläger/innen war sehr wohl bekannt: „Eine zentrale Voraussetzung für eine Individualbeschwerde ist die Rechtswegerschöpfung: Betroffene Personen müssen erst alle in Deutschland zur Verfügung stehenden, effektiven Rechtsbehelfe ausschöpfen. Darunter fällt auch ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.“ (https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/rechtsprechungsdatenbank-ius-menschenrechte/faqs/)

Was aber soll nun im Fall der Klage gegen das Prostituiertenschutzgesetz das Nichtausschöpfen des innerstaatlichen Rechtsweges ausmachen, der eine Nichtbefassung mit der Klage rechtfertigen soll? Der juristische Kniff des Richters Andre Potocki besteht darin, dass der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde gegen das Prostituiertenschutzgesetz nicht „effektiv“ war. Denn sie wurde seinerzeit von den Karlsruher Richtern nicht zur Entscheidung angenommen, da die mehr als 50 Seiten umfassende Klage aus deren Sicht angeblich in nicht „genügender Weise begründet“ war.

Genau dagegen aber richtete sich nun die Klage vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Die Kläger/innen machten gerade deshalb die Verletzung des „Rechts auf ein faires Verfahren“ geltend, was den Straßburger Richtern als „europäisches Menschenrecht“ gilt.

Doch offenbar gilt dieser Rechtsanspruch dann nicht, wenn es sich um die (fragwürdige) Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde aus vermeintlich formalen Gründen handelt. Dies nimmt nun ein Straßburger Richter als Vorwand für die Behauptung, man habe den gemäß Artikel 35 § 1 EMRK erforderlichen innerstattlichen Rechtsweg nicht „effektiv“ ausgeschöpft.

Offenkundig gelten Entscheidungen bundesdeutscher Verfassungsrichter dem Straßburger Richter als sakrosankt.

Tatsächlich liegt somit eine eklatante Verletzung des Rechtsanspruchs auf ein faires Verfahren durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof selbst vor. Mit den europäischen Menschenrechten ist es offenbar nicht weit her, sobald es um Sexarbeit geht.

Die tiefsitzende Aversion gegenüber Menschen in der Sexarbeit und die Missachtung ihrer Grund- und Menschenrechte scheint hier ganz offensichtlich der gemeinsame Nenner für eine länderübergreifende Kumpanei von Richtern. Oder auf Deutsch formuliert: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“

Das Straßburger Gericht hat – aller Menschenrechts-Rhetorik zum Trotz – mit seiner Entscheidung zur Nichtannahme der Klage gegen das Prostituiertenschutzgesetz unmissverständlich vor Augen geführt, dass das herrschende Recht das Recht der Herrschenden ist.

Für die gegenteilige Annahme, die Kläger/innen hätten sich möglicherweise von rechtlichen Dilettanten falsch beraten lassen, spricht wenig. Rechtsanwalt Meinhard Starostik, der seinerzeit die Verfassungsbeschwerde im Auftrag der Kläger/innen ausgearbeitet hatte, war

Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin und hatte sich mit erfolgreichen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht zuvor bereits bundesweit einen Namen gemacht. Rechtsanwalt Percy MacLean war 18 Jahre lang Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Berlin und zeitweilig auch Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Es handelte sich mithin um fachlich sehr kompetente Rechtsanwälte.

Sowohl die Verfassungsbeschwerde als auch die Klage in Straßburg gegen die Bundesrepublik Deutschland waren mit der erforderlichen juristischen und fachlichen Kenntnis der Materie bis ins letzte Detail penibel ausgearbeitet.

Beide Male haben die zuständigen Richter mit Verweis auf formale Gründe ihre Nichtbefassung mit den Inhalten der Klage gerechtfertigt. Beide Male haben die zuständigen Richter den Schwanz eingezogen, als es darum gegangen wäre, die Verletzung der Grundrechte von Sexarbeiter/innen und Menschen aus dem Prostitutionsgewerbe zu überprüfen. Das ist erbärmlich. Mit einer solchen auf Willkür basierenden Haltung schafft man gerade die Voraussetzungen für die Verachtung des Rechts, die man ansonsten wortreich beklagt.

Doña Carmen e.V. wird sich durch solche Gesinnungsurteile aus Karlsruhe und Straßburg – so bedauerlich sie sind – nicht entmutigen lassen.
Es ist notwendig, durch die Instanzen zu gehen und das Prostituiertenschutzgesetz, neben den erforderlichen politischen Interventionen, auch weiterhin rechtlich zu bekämpfen. Diesen Kampf wird Doña Carmen e.V. auch weiterhin führen und nach Kräften unterstützen.

Beschluss EGMR 05.12.2019