500.000 Euro Unterstützung für Sexarbeiter*innen!
Gegenüber verschiedenen Jobcentern hat Doña Carmen e.V. in der Zeit von März 2020 bis März 2022 für die vom Verein vertretenen migrantischen Sexarbeiter*innen insgesamt 180 positiv bewilligte ALG-II-Erst- bzw. Weiterbewilligungsanträge durchgesetzt und damit 502.000 Euro staatliche Unterstützung für die Betroffenen erstritten.
Das ergibt eine erste Auswertung der Arbeit von Doña Carmen e.V. in dem genannten Zeitraum, die wir in nächster Zeit genauer dokumentieren werden.
133 Frauen und Transpersonen
Doña Carmen e.V. hat unter den rund 200 während der Corona-Krise beratenen Sexarbeiter*innen allein 133 Frauen und Transpersonen im Hinblick auf ALG II beraten und mit ihnen entsprechende Anträge an die Jobcenter gestellt. Keine der Sexarbeiter*innen kam durch Vermittlung der Polizei zu Doña Carmen e.V. Die betroffenen Personen kennen Doña Carmen e.V. Der Kontakt erfolgt seit Jahrzehnten durch Mund-zu-Mund-Propaganda.
13 verschiedene Nationalitäten
Das finanzielle Ergebnis ist auch deshalb bemerkenswert, da die Antragstellenden aus insgesamt 13 Ländern kamen. Dazu zählten Bulgarien (49 Sexarbeiter*innen), die Dominikanische Republik (28 Sexarbeiter*innen), Kolumbien (23 Sexarbeiter*innen), Rumänien (15 Sexarbeiter*innen), Thailand (5 Sexarbeiter*innen) und Peru
(5 Sexarbeiter*innen). Jeweils eine Sexarbeiter*in gaben als ihr Herkunftsland Brasilien, Bolivien, Ecuador, Venezuela, Polen, Moldawien und die VR China an. Die Nationalität einer Person blieb uns unbekannt.
Sexarbeitende, die ihrer Herkunft nach keine Unionsbürger*innen waren, hatten neben einer deutschen entweder eine zweite, zumeist spanische Staatsangehörigkeit oder waren bzw. sind mit Deutschen verheiratet und konnten somit einen verfestigten Aufenthaltsstatus geltend machen.
Ergebnisse unterm Strich
Doña Carmen e.V. hat diese 133 Sexarbeiter*innen über längere Zeiträume hinweg beraten und begleitet. Zum Ergebnis lassen sich folgende Angaben machen:
► Es wurden von Doña Carmen e.V. insgesamt 133 Erstanträge sowie 101 Weiterbewilligungsanträge auf ALG II gestellt, zusammen also 234 Anträge.
► 70 % der Erstanträge wurden positiv beschieden (93 von 133), nur 16 (= 12 %) wurden abgelehnt. Bei 24 Anträgen (= 18 %) ist dem Verein der Ausgang des Verfahrens nicht bekannt, z.T. deshalb, weil im Laufe der Zeit durch die besonderen Umstände und die Mobilität der Kontakt zu den Beratenen verlorenging.
► Von den 101 Weiterbewilligungsanträgen wurden 87 (= 86 %) positiv beschieden und 6 (= 6 %) abgelehnt. In 8 Fällen ist dem Verein der Ausgang des Verfahrens nicht bekannt.
► Insgesamt wurden 180 von 234 Anträgen und damit 77 % positiv beschieden. Bei 22 von 234 Anträgen fiel das Ergebnis negativ aus (9,5 %). In 13,5 % der Fälle ist dem Verein nicht bekannt, ob der Antrag bewilligt oder abgelehnt wurde.
Insgesamt wurde 93 von 133 Sexarbeiter*innen mit 180 positiv bewilligten ALG-II-Erst- bzw. Weiterbewilligungsanträgen rund 502.000 € staatliche Unterstützung gewährt, was pro unterstützter Sexarbeiter*in im Schnitt einen Betrag von etwa 5.400 Euro ausmacht.
Hinzu kommt in den meisten dieser Fälle, dass die Sexarbeiter*innen durch Unterstützung von Doña Carmen e.V. für die Zeit des ALG-Bezugs in die Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung aufgenommen wurden, was für Personen, die in der Regel über keine Krankenversicherung in Deutschland verfügen, nicht zu unterschätzen ist!
Zermürbungsstrategien die Stirn bieten
Sexarbeit und Jobcenter sind zwei sehr unterschiedlich funktionierende Systeme, die bislang wenig und dann plötzlich in sehr engem Kontakt zueinander waren, was für beide Seiten gewöhnungsbedürftig war.
Die aus unserer Sicht relativ hohe Quote von ALG-II-Bewilligungen ist auch insofern bemerkenswert, als die örtlichen Jobcenter, mit denen wir es zu tun hatten, reichlich von ihren Möglichkeiten Gebrauch machten, Antragsteller*innen durch zahlreiche Mitwirkungspflichten mürbe zu machen und zu demotivieren.
Die Beschaffung der vom Jobcenter angeforderten Nachweise als Voraussetzung für einen ALG-II-Bezug erwies sich dabei nicht selten als auf den ersten Blick aussichtslos erscheinende Herausforderung. Doch Hurenpässe, Belege für die Teilnahme am „Düsseldorfer Verfahren“ sowie weit zurückliegende Sanktionsbescheide über begangene Ordnungswidrigkeiten erwiesen sich dabei als hilfreich. So war es uns möglich, das System mit seinen eignen Waffen zu schlagen.
Trotz aller Anstrengungen bleibt festzuhalten, dass insgesamt nur ein kleiner Bruchteil der Berufsgruppe des Sexarbeiter*innen in den Genuss von Sozialleistungen kam. Das wird sich in Zukunft ändern müssen.
Vorläufiges Fazit
Doña Carmen e.V. hat sich in den vergangenen zwei Jahren der Corona-Krise, wo immer möglich, für die Öffnung der Bordelle stark gemacht – nicht zuletzt deshalb, weil Sexarbeit in Bordellen um vieles hygienischer ist als die Arbeit in Stundenhotels oder auf der Straße. Im Unterschied zu anderen Beratungsstellen, die während der Pandemie vielfach nur noch Online-Beratung angeboten haben, hat Doña Carmen e.V. seine Präsenz in der Beratungsarbeit strikt beibehalten. Dies geschah auch deshalb, weil die von der Corona-Krise betroffenen Sexarbeiter*innen vor den Türen unserer Beratungsstelle standen und in Anbetracht flächendeckender Bordellschließungen erheblichen Beratungs- und Unterstützungsbedarf hatten. Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit Bestand seinerzeit in der Ermöglichung von Grundsicherung / ALG II (Hartz IV).
Vielfach wurde und wird auch von Sexarbeits-Organisationen die Meinung vertreten, insbesondere migrantische Sexarbeiter*innen hätten gar keinen Anspruch auf ALG II und würden durchs Rost fallen. Solche Behauptungen sind für uns nicht nachvollziehbar und stellen eine Desinformation der Betroffenen dar. Das genaue Gegenteil ist richtig:
„Im Regelfall genügt von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern für den Nachweis des gewöhnlichen Aufenthalts eine Meldebestätigung und ggf. die Vorlage des Mietvertrages. In begründeten Ausnahmefällen können jedoch weitere Nachweise angefordert werden“,
so die Bundesagentur für Arbeit in dem 2021 publizierten Praxishandbuch „Leistungsansprüche von ausländischen Staatsangehörigen nach dem SGB II“, auf das Harald Thomé von Tacheles e.V. aufmerksam machte.[1]
[1] Vgl. https://harald-thome.de/files/pdf/redakteur/Harald_2021/Praxishandbuch%20%E2%80%9ELeistungsanspr%C3%BCche%20von%20ausl%C3%A4ndischen%20Staatsangeh%C3%B6rigen%20%209-2021.pdf
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