Doña Carmen e.V. zum 1. Mai 2023

Offener Brief

An die Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Parteien im Römer und alle Mitglieder der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung

► Boarding-Haus für Sexarbeiter*innen in kommunaler Trägerschaft!

Sehr geehrte Damen und Herren,

bezahlbarer Wohnraum ist in Frankfurt am Main bekanntlich Mangelware. Und ebenso dürfte bekannt sein, dass ohne Einkommensnachweise und Schufa-Auskunft selten eine neue Unterkunft zu haben ist. Insofern haben die in Frankfurt tätigen migrantischen Sexarbeiter*innen, zumal wenn sie der deutschen Sprache nicht so mächtig sind, in dieser Frage schlechte Karten auf der Hand.

Weit über 90 % aller Prostituierten in Frankfurt sind Migrantinnen. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen kommt aus Bulgarien und Rumänien, gut ein Drittel aus Ländern Latein- und Mittelamerikas (Kolumbien und Dominikanische Republik). Den verbleibenden Rest bildet rund ein Dutzend weiterer Nationalitäten. Für die meisten von ihnen kommt – allein schon wegen der hohen Mobilität dieser Berufsgruppe – ein auf längere Dauer angemieteter Wohnraum gar nicht in Frage. Das wäre kein ökonomisch rationales Verhalten.

Wir beobachten in der Wohnungsfrage drei Optionen, die sich unter den gegebenen Bedingungen den Angehörigen dieser Berufsgruppe eröffnen:
● das Anmieten von Zimmern in Billig-Hotels, Pensionen, Appartementhäusern und Hostels, in der Regel in unmittelbarer Nähe zu ihren Arbeitsstätten im Bahnhofsviertel;
● das Einquartieren bei Freunden und Bekannten aus der gleichen ethnischen Community, mit denen man sich verbunden fühlt;
● das Nächtigen in einer überschaubaren Anzahl Zimmern, die ihnen von Bordellbetreiber*innen zur Verfügung gestellt werden.

Letzteres ist lediglich eine Notlösung als Reaktion auf das 2017 von der damaligen Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD beschlossene, unsägliche Prostituiertenschutzgesetz. Mit der Einführung des § 18, Abs.1, Satz 7 ProstSchG ist es Sexarbeiter*innen seitdem untersagt, wie früher üblich in den von ihnen zu sexuellen Dienstleistungen angemieteten Räumlichkeiten auch zu nächtigen.

Es ist natürlich leicht, Sexarbeiter*innen mit Verboten zu drangsalieren und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. Die desaströsen Folgen dieser Berliner Verbotspolitik konnte Doña Carmen e.V. während der Corona-Pandemie begutachten, als wir rund 200 Frauen aus der Prostitution mit Rat und Tat zur Seite standen. Die relevanten Größenordnungen stellten sich für Frankfurt wie folgt dar:

● rund 40 % der von uns beratenen und in ALG-II-Angelegenheiten vertretenen Frauen lebten   provisorisch und vorübergehend bei Bekannten;
● knapp 30 % der Frauen vor allem aus Südosteuropa wohnten in Hotels und Pensionen;
● weitere 13 % hat sich in Kleinst-Appartements im Bahnhofsviertel einquartiert.

Die wenigsten Frauen – knapp ein Fünftel – verfügt nach unseren Kenntnissen über privaten Wohnraum im üblichen Sinn.

Was schlecht für die Frauen ist, war gut für das Jobcenter: Nur jede sechste Frau (17 %), die während Corona ALG II beantragte, erhielt Kosten der Unterkunft (KdU) erstattet. Hotelkosten wurden nicht einmal vorübergehend übernommen – aus unserer Sicht ein klarer Rechtsbruch und unterlassene Hilfeleistung. Das in Frankfurt für die Jobcenter zuständige Sozialdezernat (Dezernentin Elke Voitl, Die Grünen) schritt nicht dagegen ein. Eine sozial verantwortungsbewusste Politik geht anders.

Wenn wir somit bei rund 70 % der Prostitutionsmigrantinnen von ‚Wohnungslosigkeit‘ sprechen können, so beschreibt das zwar eine prekäre Situation, ist aber keinesfalls Ausdruck von Armut oder Obdachlosigkeit. Denn die betroffenen Frauen stemmen in der Regel monatliche Mietkosten von 700 € bis 1.800 €, wobei die Kosten für die Bordellmieten noch gar nicht inbegriffen sind.

Es gehört nicht viel Fantasie dazu sich vorzustellen, dass derartige Kosten einen gehörigen Druck ausüben, um das dafür erforderliche Geld und ein Einkommen darüber hinaus durch Sexarbeit zu verdienen. Angesichts der gegenwärtigen Inflation im Gefolge des Ukraine-Krieges ist das kein Leichtes. In Corona-Zeiten war aufgrund des im Bordellgewerbe besonders lang anhaltenden Lockdowns keine Kundschaft mehr anzutreffen, und die gegenwärtige ökonomische Lage ist auch nicht dazu angetan, die Zahl der Kunden wieder auf Vor-Corona-Niveau anzuheben.

Vor diesem Hintergrund besteht nach unseren Beobachtungen eine zunehmende Tendenz, Prostitution aus den Bordellen heraus und stattdessen in einen informellen Bereich zu verlagern: in Wohnungen, Hotels, Appartements, auf die Straße etc.
Eine solche schleichende Verlagerung von Prostitution in einen informellen Sektor hält Doña Carmen e.V. aus prostitutions-, gesundheits- und ordnungspolitischen Gründen nicht für wünschens-wert. Darunter leiden die Professionalität der Sexarbeit, der Gesundheitsschutz der Frauen und im Zweifel deren Sicherheit, von unnötigen zusätzlichen Konflikten im Zusammenhang mit den Sperr-gebiets-Regelungen mal ganz zu schweigen.

Daher rät Doña Carmen e.V. den politisch Verantwortlichen der Stadt Frankfurt, sich mit dem Projekt eines Boarding-Hauses für Sexarbeiter*innen in kommunaler Trägerschaft vertraut zu machen und ein solches Projekt in die Tat umzusetzen.

Anstatt der schleichenden Verlagerung prostitutiver Aktivitäten in gesellschaftliche Grauzonen tatenlos zuzusehen, wäre es dringlich geboten, ein Gegengewicht zu den immer teureren kommerziellen und privaten Wohnungsangeboten bereitzustellen, zumal diese in aller Regel an den Bedürfnissen der Sexarbeiter*innen vorbeigehen.

Ein Boarding-Haus für Sexarbeiter*innen in unmittelbarer Nähe zum Bahnhofsviertel und in der Größenordnung von beispielsweise 50 Wohneinheiten wäre ein Gegengewicht zu unangemessen teuren kommerziellen und privaten Wohnungsangeboten. Es könnte anteilig von der Stadt Frankfurt, von Bordellbetreiber*innen und von Sexarbeiter*innen (z. B. 20 € pro Nacht) finanziert werden. Es wäre eine Chance für alle Seiten: Sexdienstleister*innen hätten einen geringeren Kostendruck, wären für Informationsangebote leichter erreichbar, sie hätten eine Meldeadresse etc. etc.

Wir fordern die im Frankfurter Stadtparlament vertretenen Parteien auf, sich zu diesem Vorschlag zu positionieren. Anstatt sich mit markigen Sprüchen wie der Forderung nach „Waffenverbotszonen“ und der Ausweitung von Videoüberwachung zu profilieren, sollte man die wirklich wichtigen sozialen Fragen anpacken und nicht übersehen, dass sie sich (nicht nur) im Bahnhofsviertel und damit für die Stadt Frankfurt als Ganzes stellen.

Ihre baldige Stellungnahme zu diesem Vorschlag, dessen Details sicherlich erörtert werden müssen, erwartet Doña Carmen e.V., Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten.

Mit freundlichen Grüßen

Julia Back

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