Zeit zu handeln:

Schluss mit Zwangsberatungen von Sexarbeiter*innen durch den ‚Sozialpsychiatrischen Dienst‘
der Gesundheitsämter!

In mehreren hessischen Gesundheitsämtern erfolgt die nach § 10 Prostituiertenschutzgesetz vorgeschriebene gesundheitliche Zwangsberatung von Sexarbeiter*innen in der Verantwortung des ‚Sozialpsychiatrischen Diensts‘.

Das wird von Sexarbeiter*innen aus gutem Grund als massive Diskriminierung empfunden und abgelehnt. Auch Doña Carmen e.V., Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten, wendet sich entschieden gegen diese Praxis und setzt sich dafür ein, dass Gesundheitsämter einen diskriminierungsfreien Umgang mit Sexarbeiter*innen pflegen.

Die „Einschaltung eines sozialpsychiatrischen Dienstes“ im Zusammenhang der Beratung von Prostituierten ist im ProstSchG nur für eine sehr spezielle Fallkonstellation vorgesehen: nämlich ausschließlich im Fall von Personen unter 21 Jahren, die durch Dritte zur Aufnahme und Fortsetzung der Prostitution gebracht werden und bei denen Behörden erkennbare Anhaltspunkte haben, dass „etwas nicht stimmt“. Diese Klarstellung findet sich in der Begründung zu „§ 9 ProstSchG“ (vgl. Bundestags-Drucksache 18/8556, S. 72). Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass die regelhafte Beratung durch einen „Sozialpsychiatrischen Dienst“ durch das ProstSchG weder intendiert noch gedeckt ist.

Im Bundesland Hessen werden die Befugnisse der Gesundheitsbehörden durch das Hessische Gesetz für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (HGöGD) geregelt, wo es in § 7 Abs. 3 heißt:

„Die Gesundheitsämter unterstützen Menschen mit psychischen Krankheiten, Abhängigkeits-erkrankungen und seelischen und geistigen Behinderungen sowie hiervon bedrohte Menschen und deren Angehörige mit der Bereitstellung eines Beratungs- und Betreuungsangebotes durch einen sozialpsychiatrischen Dienst sowie durch die Vermittlung weitergehender spezifischer Hilfen.“

Es ist unschwer erkennbar, dass die regelhafte Zuständigkeit eines Sozialpsychiatrischen Dienstes für die obligatorische Gesundheitsberatung von Sexarbeiter*innen alles andere als sachgerecht ist. Wenn eine Berufsgruppe in Gänze schon aufgrund institutioneller Zuordnung als „Menschen mit psychischen Krankheiten, Abhängigkeitserkrankungen und seelischen und geistigen Behinderungen“  eingeordnet wird, handelt es sich um eine unzulässige Stigmatisierung aller im Prostitutionsberuf tätigen Sexarbeiter*innen – auch wenn das von den Mitarbeiter*innen der Gesundheitsämter nicht intendiert sein mag.

Dass durch derartige institutionelle Praktiken gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Prostitution befördert werden, entspricht allgemeiner Lebenserfahrung und kann nicht ausgeschlossen werden. Schließlich müssen Sexarbeiter*innen ihren nunmehr mit dem Stempel „Sozialpsychiatrischer Dienst“ versehenen Nachweis einer „gesundheitlichen Beratung nach § 10 Prostituiertenschutzgesetz“ ständig mit sich führen und diesen nicht nur gegenüber Polizei und Behörden, sondern auch gegenüber Privatpersonen, den Betreiber*innen von Prostitutionsstätten, vorlegen. Damit begleitet behördliche Stigmatisierung Sexarbeiter*innen bei ihrer Berufsausübung auf Schritt und Tritt.

Es liegt in der Verantwortung der entsprechenden Gesundheitsämter, behördliche Praktiken, die von den Betroffenen als stigmatisierend und diskriminierend empfunden werden, unverzüglich einzustellen. Aus dieser Verantwortung darf man die betreffenden Ämter nicht entlassen.

Es ist daher ermutigend, dass Verantwortliche des Gesundheitsamts des Main-Kinzig-Kreises in einem Gespräch mit betroffenen Sexarbeiter*innen ihre Bereitschaft bekundet haben, die dort bislang praktizierte, fragwürdige Zuständigkeit des ‚Sozialpsychiatrischen Dienstes‘ zu prüfen.

In dem am 9. Dezember 2021 im Gesundheitsamt des Main-Kinzig-Kreises geführten Gespräch mit betroffenen Sexarbeiter*innen sowie Vertreter*innen von Doña Carmen e.V. kam man überein, dass sich die Gesundheitsbehörde bis zum 1. März 2022 in der Sache positioniert. Doña Carmen e.V. erwartet, dass eine Entscheidung im Sinne der Sexarbeitenden getroffen wird und entsprechende organisatorische Änderungen veranlasst werden. Die Argumente sind ausgetauscht. Jetzt ist es Zeit zu handeln.