Am 5. Dezember 2020 veröffentlichte die ‚taz‘ von Doña Carmen e.V., rund fünfzig Sexarbeiter/innen sowie einigen Etablissements des Prostitutionsgewerbes unterzeichneten „Appell an Vernunft und Augenmaß“.

Der Aufruf richtet sich an die politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern und fordert den in Corona-Zeiten keineswegs mehr selbstverständlichen Respekt gegenüber dem Recht auf Sexarbeit.
Er fordert darüber hinaus, Einrichtungen des Prostitutionsgewerbes nicht länger durch widersinnige politische Vorgaben vor und während der Corona-Zeit am langen Arm verhungern zu lassen. Und schon gar nicht dürfe der Grundsatz der Regulierung von Prostitution schleichend durch eine Verbotspolitik (Prohibition) ersetzt werden.
Man mag gegen den Appell einwenden, er fordere zum falschen Zeitpunkt – nämlich in einer Zeit sehr hoher täglicher Corona-Neuinfektionen – die Öffnung der Bordelle und stelle damit unter Beweis, dass es den Unterzeichner/innen selbst an Vernunft und Augenmaß fehle. Wie könne man von anderen einfordern, was man selbst nicht beherzige?
Wer den genauen Wortlaut des Appells zur Kenntnis nimmt, wird feststellen, dass er nicht die „Öffnung der Bordelle“ fordert, sondern vielmehr, dass über politisch richtungsweisende Entscheidungen zum Prostitutionsgewerbe nicht länger in Hinterzimmern von Verwaltungen, Behörden und Ministerien befunden wird. Ein kleiner Unterschied, den man zur Kenntnis nehmen sollte.
Nicht wenige meinen, es sei ein Gebot der Vernunft und daher sinnvoll, in Zeiten hoher Corona-Infektionszahlen Prostitutions-Etablissements vorsichtshalber geschlossen zu halten und sie nur in Zeiten niedriger Neuinfektionen zu öffnen. Doch ist das eine Maßgabe, an die sich Politiker/innen bei ihren Entscheidungen zum Prostitutionsgewerbe selbst nicht gebunden fühlen:
In den 174 Tagen oder fünfeinhalb Monaten niedriger Infektionszahlen (18. – 42. KW 2020) durften Prostitutions-Etablissements (im Schnitt aller Bundesländer) gerade mal 52 Tage, also weniger als zwei Monate öffnen, bevor sie geradewegs in den nächsten Lockdown schlidderten.
Eine Reihe von Oberverwaltungsgerichten bestätigte in ihren kürzlich ergangenen Urteilen, dass Grundrechte im Prostitutionsgewerbe unzulässig beschnitten wurden. Sämtliche Bordell-Öffnungen mussten den Bundesländern vor den Verwaltungsgerichten abgetrotzt werden. Es bestand auf Seiten staatlicher Behörden nicht das geringste Interesse, Bordelle in Zeiten niedriger Werte von Corona-Neuinfektionen wieder zu öffnen. Man sollte auch nicht vergessen: Eilverfahren zu Beherbergungsverboten dauerten wenige Tage, Eilverfahren zu Bordell-Öffnungen dauerten mehrere Monate oder sind ganz verschleppt worden – wie das in Hessen der Fall war. Das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit ist im Keller.
Wer heute meint, in Zeiten einer hohen Zahl positiver Corona-Tests müsse man sich im Prostitutionsgewerbe mit Forderungen zurückhalten, verkennt komplett die Logik staatlichen Handelns. Dem Prostitutionsgewerbe wird abverlangt, sich an Grundsätze zu halten, denen sich der Staat selbst nicht verpflichtet fühlt. Warum aber sollte das Prostitutionsgewerbe päpstlicher sein als der Papst und sich einer Logik unterwerfen, um die der Staat sich selbst nicht schert?
Die Oberverwaltungsgerichte in NRW und Baden-Württemberg erklärten in jüngsten Urteilen zu Prostitution & Corona, dass von Prostitutionsbetrieben keine außergewöhnliche Gefahr ausgehe. Nun aber sind Prostitutionsbetriebe wieder geschlossen worden. Wo aber sind die Untersuchungen oder Belege dafür, dass Prostitutions-Etablissements jetzt womöglich für ein vermehrtes Infektionsgeschehen verantwortlich sein sollen? Die gibt es nicht.
Wie blauäugig muss man sein, um vor diesem Hintergrund anzunehmen, staatliche Politik gegenüber dem Prostitutionsgewerbe folge allein rationalen Gründen der Prävention von Corona-Infektionen?
Die gegenwärtig per Verordnung geschlossenen Bordelle taugen keineswegs als Beleg dafür, dass hier allein gesundheitspolitische Erwägungen handlungsleitend sind. Für die Einschätzung dagegen, dass die von staatlicher Seite seit nunmehr drei Jahren betriebene Verdrängungspolitik gegenüber Einrichtungen des Prostitutionsgewerbes unter dem Vorzeichen von Corona fortgesetzt wird, gibt es allerdings reichlich Indizien.
Schleichender Wechsel hin zu Verbotspolitik gegenüber Prostitution
Ein schleichender Wechsel hin zu einer Verbotspolitik gegenüber Prostitution lässt sich an der seit drei Jahren systematisch betriebenen Verdrängungspolitik im Zuge der Einführung der Konzessionierung von Prostitutionsbetrieben beobachten, wobei bereits Etablissements ab zwei Sexarbeiterinnen betroffen sind.
In Frankfurt/Main bezifferte der Magistrat der Stadt im August 2017 die Zahl der ihr bekannten Prostitutionsbetriebe noch mit 168. Bis zum 28. Oktober 2019 sind davon lediglich 54 Betriebe übriggeblieben, die einen Antrag auf Konzession gestellt hatten. In Trier sind lediglich fünf bis acht der ursprünglich 30 Prostitutionsbetriebe konzessioniert worden. Ob sie die anschließende Corona-Pandemie überstehen, steht in den Sternen. In anderen Städten sieht es nicht besser aus.
Sexarbeiter/innen werden durch diese Politik an den Rand der Gesellschaft und in informelle Strukturen gedrängt. Der Staat nützt seine Gestaltungsmöglich-keiten erkennbar nur im repressiven Sinne der Verdrängung unliebsamer Prostitution. Das zeigt sich auch daran, dass Konzessionen vom Staat systematisch vorenthalten werden – vielfach durch Instrumentalisierung des Baurechts – und die meisten Betriebe zurzeit nur auf Grundlage einer „fiktiven Genehmigung“ weiterarbeiten. Eine Entwicklung übrigens, die durch die vom Wiesbadener Bundesamt für Statistik veröffentlichten Daten glatt vertuscht wird.
Diese Entwicklung wird in Corona-Zeiten überlagert und noch verstärkt durch eine unverhältnismäßig lange Zeit im Lockdown: Trotz einer anhaltend langen Phase niedriger Corona-Neuinfektionen erfolgte (in 2 Bundesländern) keine und in 14 Bundesländern nur eine späte Öffnung der Bordelle, die bis zum erneuten Lockdown im November gerade mal 52 Tagen dauerte. Dabei hat die Politik nicht von sich aus, sondern nur auf Druck von Gerichtsentscheidungen sich zur Öffnung von Bordellen durchringen können. Absurde Ungleichbehandlungen waren die Folge: in Mainz waren die Bordelle geöffnet (Rheinland-Pfalz), auf der gegenüber liegenden Rheinseite im hessischen Wiesbaden waren sie geschlossen. Mit epidemiologischen Argumenten lässt sich das nicht rechtfertigen, trotzdem wurde das so praktiziert.
Sexuelle Dienstleistungen außerhalb der Einrichtungen werden seit dem November-Lockdown „light“ in mittlerweile 11 von 16 Bundesländern ganz oder teilweise verboten, was im umfassenderen Frühjahrs-Lockdown keineswegs der Fall war. Ganz offensichtlich macht man die Gefährlichkeit des Corona-Virus immer weniger am Sex, als vielmehr an dessen Käuflichkeit fest – denn private Dating-Plattformen und privater Sex sind bekanntlich nicht verboten. Das ist Ausdruck einer Bekämpfung von Prostitution, nicht aber der Bekämpfung von Covid-19.
In Hessen wurde vom Verwaltungsgerichtshof im November 2020 die Wiedereröffnung von Fitness-Studios untersagt mit der Begründung, sie würden zusätzlich Wellnessangebote offerieren und damit zu einer längeren Verweildauer beitragen und animieren. All das ist in Bordellen (mit Ausnahme der FKK-Clubs) nicht anzutreffen, sie müssten nach dieser Logik also durchaus wieder öffnen können. Das wird natürlich nicht gemacht.
Mangelnde Vernunft und mangelndes Augenmaß staatlicher Politik bei der Corona-Bekämpfung
Die Politik des Lockdowns – ob nun „total“ oder „light“ – ist keineswegs der Inbegriff von Vernunft, für die sie verkauft wird. Und sie ist auch nicht zielführend, wie die anhaltend hohe Zahl an Corona-Neuinfektionen trotz November- und Dezember-Lockdown gegenwärtig belegt.
Solange man nicht an den Kern des Problems geht, werden Lockdown-Regime nur Jo-Jo-Effekte zeitigen. Der Kern des Problems der Infektionen mit Covid-19 sind unhaltbare Zustände in Gemeinschafts-einrichtungen. Das steht in jedem RKI-Bericht. Das verweist auf den seit Jahrzehnten staatlich geduldeten Pflegenotstand in Alters- und Pflegeheimen. Dafür bekommt man nun die Quittung präsentiert. Und dazu gehört auch die finanziell unterausgestattete ambulante Pflege mit den vielen schlecht bezahlten Pflegerinnen. Den Mangel an Pflegepersonal in Krankenhäusern schreit zum Himmel. Es geht soweit, dass – wie etwa in Sachsen – jetzt schon mit staatlicher Billigung positiv getestetes Personal in den Krankenhäusern weiterarbeiten muss.
Zu diesem Problembereich gehören auch die seit Jahrzehnten staatlich gekürzten Gesundheitsämter, weshalb da jetzt fachfremdes Persona in Gestalt von Bundeswehr eingesetzt wird, was ein Unding ist. Dazu gehören Flüchtlings- und Asylbewerberheime in staatlicher und privater Trägerschaft, wo betroffene Menschen zusammengepfercht werden, was jeglichen Gesundheitsstandards Hohn spricht.
Dazu dürften auch Bundeswehrkasernen gehören (von denen man seltsamerweise gar nichts hört), Justizvollzugsanstalten oder die staatlich gehätschelten Kirchen und kirchlichen Einrichtungen, die man im jetzigen Lockdown aus purer konfessioneller Kumpanei geöffnet hält. Mit der Folge, dass man Heiligabend einen Superspreader-Event erleben wird, da allein von der EKD in den vergangenen Jahren bei Heiligabend-Gottesdiensten jeweils rund 8 Millionen Besucher gezählt wurden.
Über Jahrzehnte hinweg wurden im Übrigen gewerkschaftliche Forderungen nach kleineren Klassen an Schulen arrogant belächelt. Kleinere Klassen sind aber nicht nur pädagogisch sinnvoll, sondern auch gesundheitspolitisch sinnvoll. Das weiß heute jede/r Grundschüler/in, hat sich aber bis zur Politik noch nicht herumgesprochen. Und so ist man bis heute nicht in der Lage, durch zeitlich versetzten Schulbeginn die Nutzung der öffentlichen Nahverkehrsmittel zu entzerren.
Wer nun aber meint, er müsse die Schuld an steigenden Corona-Infektionszahlen einer undisziplinierten Bevölkerung in die Schuhe schieben, die sich nicht an Regeln zu halten vermag, oder einer Jugend, die offenbar nur im Party-Modus lebt, der verfährt nach der Methode desjenigen, der geklaut hat und „Haltet den Dieb!“ schreit.
Eine undifferenzierte Politik des allgemeinen, flächendeckenden Lockdowns – ob nun „total“ oder „light“ – ist auch schon deshalb verfehlt, weil man mittlerweile aus wissenschaftlichen Studien wie „Mobility network models of COVID-19 explain inequities and inform reopening“ (https://www.nature.com/articles/s41586-020-2923-3) weiß, dass staatliches Handeln sich gezielt auf Mobilitäts-Hotspots konzentrieren und den Publikumsverkehr an besonders häufig frequentierten Orten entzerren müsste, um Corona-Neuinfektionen zu minimieren.
Demgegenüber ist es wenig überzeugend, wenn ein allgemeiner Lockdown an ominöse Schwellenwerte wie den der „50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern“ gekoppelt wird. Derartige Kennziffern sind in keiner Weise ein sinnvoller Indikator für das objektive Infektionsgeschehen, da deren Höhe nicht von der objektiven Zahl der Infektionen, sondern auch von der Testhäufigkeit und der jeweiligen Teststrategie abhängt. Darüber besteht aber vor Ort keinerlei Transparenz. Hinzu kommt, dass die Zahl der positiv auf Corona Getesteten für sich genommen nichts aussagt über die Zahl der daran tatsächlich Erkrankten. Auch ist nicht jeder positiv auf Sars-Cov-2 Getestete deshalb infektiös und Überträger eines Krankheitserregers.
Die Hinweise verdeutlichen, dass die Bundesregierung und die staatlichen Institutionen die Vernunft keineswegs für sich gepachtet haben.
Auch ist eine „Öffnung von Bordellen“ keineswegs Ausdruck blanker Unvernunft, wenn sie an sinnvolle Bedingungen gekoppelt ist. Dazu gehört
► dass durch Entzerrung der Besucherströme Abstandsgebote eingehalten werden sollten;
► dass in allen allgemein zugänglichen Bereichen der Prostitutions-Etablissements Mund-Nase-Bedeckung vorgehalten und getragen werden sollten;
► dass in allen Bereichen der Prostitutionsstätten regelmäßiges Lüften und Desinfizierung gewährleistet werden sollte;
► dass grundsätzlich nur 1:1-Sexualkontakte praktiziert und gewährleistet werden sollten.
In der Bringschuld stehen im Falle wiedereröffneter Bordelle jedoch nicht nur die Prostitutions-Etablissements, sondern auch der Staat: Die Gesundheitsämter müssten endlich wieder aufsuchende Arbeit im Prostitutionsgewerbe vor Ort machen und zwar mit medizinisch qualifiziertem Personal – nicht aber sinnfreie gesundheitliche Zwangsberatungen von Prostituierten nach § 10 ProstSchG.
Natürlich hätte man unter den gegenwärtigen Bedingungen damit nicht die Gewähr, dass es im Prostitutionsgewerbe infektionsfrei zugeht. Aber diese Gewähr hat man noch weniger, wenn Sexarbeit illegal in informellen Strukturen erfolgt. Doch um einen vollständigen Ausschluss jeglicher Infektion kann es vernünftigerweise auch gar nicht gehen, sondern lediglich um ein „flatten the curve“. Das aber sind zwei vollkommen verschiedene Dinge.
Und nicht zuletzt muss es darum gehen, an die bestehende Eigenverantwortung anzuknüpfen und sie zu bestärken, anstatt wechselweise ganze Bevölkerungsgruppen unter Generalverdacht zu stellen und sie zu bezichtigen, notorisch „unverantwortlich“, „unvernünftig“ oder undiszipliniert“ zu handeln, um sie anschließend zu unmündigem Staatsvolk zu degradieren.
Dass Eigenverantwortung auch im Bereich prostitutiver Dienstleistungen besteht, hat der Beginn der Corona-Krise im März 2020 verdeutlicht, als zahlreiche Prostitutionskunden die Bordelle mieden, sodass einige von ihnen mangels Auslastung bereits vor dem offiziellen Lockdown geschlossen hatten. Was zeigt: Die Menschen sind vielerorts vernünftiger als vom Staat öffentlich hingestellt, der sie gern zum Objekt medialer blaming- und shaming-Kampagnen macht.
Fazit: Die vom „Appell an Vernunft und Augenmaß“ thematisierten Probleme sind ernst zu nehmen, die Gewährleistung der dort formulierten Forderungen dringend erforderlich. Der „Appell an Vernunft und Augenmaß“ sieht sich dem Leitbild einer aufgeklärten Gesellschaft verpflichtet. Das kann nicht oft genug herausgestellt werden in einer Zeit, wo die gesellschaftliche Entwicklung erkennbar in Richtung eines Polizei- und Überwachungsstaates geht. Das lehnen wir entschieden ab.
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