17 Fragen an die Abgeordneten des Hessischen Landtags
Sehr verehrte Abgeordnete,
mit der am 28.12.2021 erfolgten Einführung der so genannten „besonderen regionalen Schutzmaßnahmen“ in § 27 CoSchuV hat es die Hessische Landesregierung binnen zehn Tagen geschafft, nahezu ganz Hessen in den Status eines „regionalen Hotspots“ mit weitreichenden Einschränkungen demokratischer Freiheitsrechte zu katapultieren.
Zu den damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen gehört nach § 27 Abs. 1 Punkt 10 CoSchuV auch die „Schließung von Prostitutionsstätten“. Diese sind nun flächendeckend in Hessen wieder geschlossen, weshalb ich mich als Sprecherin von Doña Carmen e.V., Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten, hiermit an Sie wende.
Mit der staatlich verordneten „Schließung von Prostitutionsstätten – das sind wohlgemerkt nicht nur Bordelle, sondern auch Wohnungen! – kennt sich die Hessische Landesregierung mittlerweile bestens aus. Schließlich hat sie es bereits in den Corona-Jahren 2020 und 2021 auf insgesamt 468 Tagen Lockdown im Prostitutionsgewerbe gebracht und sich damit eine bundesweit einmalige, wenngleich traurige Spitzenstellung sichern können.
Was ursprünglich als Vorsichtsmaßnahme für einzelne Kreise innerhalb Hessens gedacht war, entwickelte sich unter Omikron in Windeseile zum Selbstläufer. Inzwischen steht – mit vorläufiger Ausnahme des Werra-Meißner-Kreises – ganz Hessen als einziger, selbst ernannter „Corona-Hotspot“ unter allen sechzehn Bundesländern da. Ein neues Alleinstellungsmerkmal! Dies geschieht,
● obwohl Hessen hinsichtlich der 7-Tage-Inzidenz bei „Hospitalisierungen“ mit einem Wert von 3,9 gerade mal im Mittelfeld liegt: 7 Bundesländer verzeichnen aktuell höhere Werte;
● obwohl Hessen beim „Anteil der mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbetten“ mit 10,7 % lediglich auf Rang 9 der Bundesländer mit den höchsten Anteilen liegt;
● obwohl Hessen sich bei der 7-Tage-Inzidenz der „Todesfälle an/mit Covid-19“ mit einem Wert von 0,7 abgeschlagen auf Platz 14 aller 16 Bundesländer befindet.
(alle Daten: Stand: 23.01.2022).
Die Republik wundert sich mittlerweile, wie der Presseberichterstattung zu entnehmen ist.
(vgl.: Fast alle Kommunen und Landkreise in Hessen sind Hotspots, Süddeutsche Zeitung, 18.1.2022, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-frankfurt-am-main-fast-alle-kommunen-und-landkreise-in-hessen-sind-hotspots-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220117-99-737818)
Bitte helfen Sie uns weiter und beantworten Sie unsere Fragen:
1. Warum erschließt sich uns die Weisheit der Hessischen Landesregierung und die Logik dieser „besonderen regionalen Schutzmaßnahmen“ gemäß § 27 CoSchuV nicht?
Neben Hessen gibt es bundesweit nur zwei weitere Bundesländer – Bayern und Niedersachsen –, die in ihren Corona-Verordnungen eine ausschließlich an Covid-19-Neuinfektionen ausgerichtete regionale „Hotspot“-Regelung haben.
Wir fragen:
2. Welche Erkenntnisse hinsichtlich der Sinnhaftigkeit einer einzig und allein an der Zahl der Neuinfektionen anknüpfenden „Hotspot“-Regelung hat Hessen den 13 übrigen Bundesländern voraus, dass es sich im Unterschied zu ihnen für eine solche spezielle Regelung entschieden hat?
Vor gut einer Woche, am 14.01.2022, hat die bayerische Landesregierung nun ihre vergleichsweise großzügige, am Schwellenwert „1.000“ ausgerichtete „Hotspot“-Regelung bis vorerst 28. Januar ausgesetzt und verzichtet bis auf weiteres auf deren Anwendung. Laut dem bayerischen Gesundheitsminister Holetschek gegenüber dpa gehe es zunächst um eine „sachgerechte Anpassung der Hotspot-Regelung“ an die neuen Omikron-Bedingungen.
(vgl.: https://www.stmgp.bayern.de/coronavirus/)
Wir fragen daher:
3. Halten die Abgeordneten des Hessischen Landtags die hiesige „Hotspot“-Regelung, die sich am wesentlich niedrigeren Schwellenwert von „350“ bei den 7-Tage-Inzidenzen von Covid-19-Neuinfektionen orientiert, ernsthaft für eine den Omikron-Bedingungen angemessene Regelung?
4. Was hindert die Hessische Landesregierung, es ihren bayerischen Kollegen*innen gleichzutun und die Sinnhaftigkeit der bestehenden Regelung in § 27 CoSchuV einer Überprüfung zu unterziehen?
5. Warum hat die Hessische Landesregierung stattdessen die CoSchuV inklusive des umstrittenen § 27 bis zum 22. Februar 2022 verlängert?
Ausweislich der geltenden Corona-Verordnungen verbinden weder das Bundesland Bayern noch Niedersachsen ihre regionalen „Hotspot“-Regelungen mit einer Vorgabe zur „Schließung von Prostitutionsstätten“, wie das in Hessen der Fall ist. Die Schließung von Prostitutionsstätten, gekoppelt allein an eine 7-Tage-Inzidenz von „350“ bei Covid-19-Neuinfektionen, findet sich somit exklusiv nur in Hessen. Kein anderes Bundesland verfährt in dieser Form repressiv und mittels Lockdown gegenüber einem einzigen Gewerbe, natürlich ausgerechnet gegenüber dem Prostitutionsgewerbe.
Das wirft weitere Fragen auf:
6. Über welche Erkenntnisse hinsichtlich des offenbar als gefährlich eingestuften Pandemie-Geschehens in Prostitutionsstätten verfügen Mitglieder der Regierungsfraktionen im Hessischen Landtag bzw. Mitglieder der Hessischen Landesregierung, die sie anderen Landesregierungen offenbar voraushaben?
7. Handelt es sich diesbezüglich um empirisch belastbare, allgemein nachvollziehbare Erkenntnisse oder beruhen sie auf persönlich gewonnenen Erfahrungen von Mitgliedern der Hessischen Landesregierung?
Die Hessische Landesregierung rühmt sich seit September 2021 der Anwendung eines neuen 2-stufigen Verfahrens im Umgang mit der Corona-Pandemie. So erklärte die Landesregierung im September 2021: „Angesichts des zu verzeichnenden Impffortschritts sind die Hospitalisierungsinzidenz und die Intensivbettenbelegung die Hauptindikatoren für weitreichendere Schutzmaßnahmen.“
(vgl. „Neue Indikatoren – Kapazitäten des Gesundheitswesens“,
https://www.hessen.de/Handeln/Corona-in-Hessen/Kapazitaeten-des-Gesundheitswesens)
In der Presse war nachzulesen: „Daher hat das Corona*-Kabinett um Ministerpräsident Volker Bouffier zum Herbstanfang 2021 einen grundlegenden Wechsel in der hessischen Strategie zur Eindämmung des Coronavirus beschlossen. Am Donnerstag, dem 16. September 2021 tritt die neue Allgemeinverfügung der hessischen Landesregierung in Kraft. Die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen spielt dann nur noch eine untergeordnete Rolle in der Bewertung der Pandemie. Ausschlaggebend ist stattdessen künftig die Situation in den hessischen Krankenhäusern, wie Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) am Dienstag (14.09.2021) in Wiesbaden bekannt gab.“
(vgl. „Corona-Regeln in Hessen: Inzidenz spielt keine Rolle mehr“, https://www.fnp.de/hessen/hessen-corona-konzept-pandemie-inzidenz-fallzahlen-krankenhaus-2g-regel-massnahmen-verordnung-bouffier-covid-zr-90982482.html)
Das neue zweistufige Schutzkonzept wird von der Landesregierung auf ihrer Website wie folgt erläutert:
„Stufe 1 des neuen Konzepts wird relevant, wenn …
● der Hospitalisierungswert über 8 steigt
● oder die Zahl der Intensivpatienten über 200 liegt.
Dann werden weitergehende Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie notwendig, z.B. ein Testnachweis nur noch mittels PCR-Test oder eine Ausweitung der 3-G-Regel auf weitere Bereiche. Diese Maßnahmen werden von der Landesregierung beschlossen.
Stufe 2 kommt zum Tragen, wenn …
● der Hospitalisierungswert über 15 steigt
● oder die Zahl der Intensivpatienten über 400 liegt.
Dann werden nochmals zusätzliche Maßnahmen in die Wege geleitet, beispielsweise Zugang nur noch mit 2G.“
(vgl. https://www.hessen.de/Handeln/Corona-in-Hessen/Kapazitaeten-des-Gesundheitswesens)
Wir fragen die Abgeordneten des Hessischen Landtags:
8. Warum werden die Indikatoren „Hospitalisierungsrate“ und „Zahl der Intensivbetten“ bei der Ausweisung von Hotspot-Regionen nach § 27 CoSchuV gänzlich außer Acht gelassen?
9. Warum orientiert man sich erneut ausschließlich an Covid-19-Neuinfektionen, obwohl man weiß, dass deren Höhe auch von der Zahl durchgeführter Tests abhängig ist und sie für sich genommen keine Überlastung des Gesundheitssystems indiziert?
Die Hospitalisierungsrate lag in Hessen (mit Nachmeldungen) lediglich im Dezember 2020 über dem Wert 15, seitdem nicht mehr. Der Wert 8 wurde zuletzt in der ersten Dezemberhälfte 2021 überschritten, ohne dass eine Schließung von Prostitutionsstätten für notwendig erachtet wurde. Seit dem 11. Dezember 2021 sinkt dieser Wert stetig – auch ohne regionale Hotspotregelungen. Aktuell liegt er bei Werten zwischen 4 und 5.
Bitte erklären Sie uns doch:
10. Warum sind Prostitutionsstätten in Zeiten höherer Hospitalisierungsraten für den Publikumsverkehr geöffnet, in Zeiten weitaus geringerer Hospitalisierungsraten hingegen geschlossen?
In allen bisherigen vier Corona-Wellen erfolgte die Entwicklung der maßgeblichen Covid-19-Indikatoren weitgehend synchron: Stiegen die Werte des einen Indikators, so stiegen auch die Werte der anderen Indikatoren und umgekehrt. Bestenfalls erfolgte deren Entwicklung geringfügig zeitversetzt. Das ist unter Omikron offensichtlich anders.
Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern und jeder bekommt es tagtäglich mit, dass sich der Indikator „7-Tage-Inzidenz der Covid-19-Neuinfektionen“ einerseits sowie die Indikatoren „Hospitalisierung“, „Covid-19-Belegung von Intensivbetten“ und „Todesfälle an/mit Covid-19“ andererseits entkoppeln. Der ausschließliche Bezug auf die Zahl der Covid-19-Neuinfektionen kann daher nicht mehr beanspruchen, ein realistisches Abbild der Pandemieentwicklung darzustellen.
Alle Zahlen des RKI belegen es: Die „Hospitalisierung“ steigt in Hessen (und bundesweit) nur geringfügig und in keinem Verhältnis zum massiven Anwachsen der Covid-19-Neuinfektionen. Die Hospitalisierungsrate erreichte in der ersten Corona-Welle in Hessen ihren Spitzenwert mit 6,3, in der zweiten Corona-Welle mit 20,4, in der dritten Corona-Welle mit 11,7 und in der vierten Corona-Welle mit 9,0. In der aktuellen fünften Welle liegt dieser Wert gerade mal zwischen 4 und 5, obwohl die 7-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen mit einem Wert von 917,1 in dieser Höhe bislang noch nie da war.
Der Indikator „Anteil der Covid-19-Patienten an Intensivbetten“ entwickelt sich sogar gegenläufig zur Entwicklung der Neuinfektionen und liegt mit einem 10,7-%-Anteil bzw. 210 von Corona-Patienten belegten Betten (23.01.2022) weit unter dem Höchstwert der vierten Welle von 306 (9.12.2021). Hier betrug der Anteil von Covid-19-Patienten an den Intensivbetten 15,7 %. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei der 7-Tage-Inzidenz der „Todesfälle an/mit Covid-19“, deren Wert sich von 1,9 (14.12.2021) auf nunmehr 0,7 (23.01.2022) mehr als halbiert hat.
Wir wollen der Hessischen Landesregierung nicht unterstellen, dass sie uninformiert ist und ihr diese Entkoppelung wesentlicher Aspekte der Covid-19-Pandemie entgangen ist. Schließlich lag der Beginn der fünften, von Omikron geprägten Welle in Hessen bereits am 27.12.2021, aber die „Hotspot“-Regelung griff erst am 8.1.2022 in Frankfurt/Main.
Wir fragen daher die Abgeordneten des Hessischen Landtags:
11. Wer kann uns bitte erklären, warum die Landesregierung ausgerechnet zu dem Zeitpunkt eine ausschließlich auf Neuinfektionen basierte „Hotspot“-Regelung zur Anwendung bringt, wo die maßgeblichen Indikatoren sich voneinander entkoppeln?
12. Wie kann es sein, dass die Hessische Landesregierung in § 1 ihrer Corona-Verordnung von der Bevölkerung ein „pandemiegerechtes Verhalten“ einfordert, selbst aber Regelungen praktiziert, die mit ihrer ausschließlichen und somit einseitigen Fixierung auf Neuinfektionen alles andere als „pandemiegerecht“ sind?
Die in § 27 CoSchuV verankerten regionalen „Hotspot“-Regelungen haben nachweislich nichts beigetragen zur Beeinflussung der Corona-Entwicklung, vor der sie doch angeblich schützen sollen. Weder haben sie ein permanentes Ansteigen der Covid-19-Neuinfektionen verhindern können – im Gegenteil: diese steigen trotz der Regelungen weiter munter an –, noch sind sie für das Absinken der übrigen maßgeblichen Indikatoren ursächlich. Denn diese waren bereits lange vor Anwendung der „Hotspot“-Regelungen im Sinken begriffen.
Wir fragen Sie daher:
13. Wie begründen bzw. rechtfertigen Sie die weitere Beibehaltung dieser regionalen „Hotspot“-Regelungen?
14. Halten sie das Aussitzen auf Grundlage einer einmal geschaffenen, aber wenig überzeugenden Verordnung für einen Ausweis intelligenter Politik?
In Hessen arbeiteten nach Angaben des Bundesamts für Statistik im Corona-Jahr 2020 mindestens 2.500 Sexarbeiter*innen, eine Zahl, die wir aufgrund unserer langjährigen Erfahrungen in diesem Bereich für zu niedrig erachten.
Ein Großteil dieser Frauen arbeitet in den von der Hessischen Landesregierung aufgrund von § 27 Abs. 1 Punkt 10 CoSchuV erneut geschlossenen Prostitutionsstätten. Das wird erfahrungsgemäß zur Folge haben, dass diese Frauen fortan in einen informellen Sektor ausweichen, wo angemessene hygienische Standards nicht gewährleistet sind.
Unsere Fragen an Sie lauten:
15. Mit welchem Argument würden Sie diesen Frauen erklären, dass die von ihnen genutzten Prostitutionsstätten angesichts vergleichsweise niedriger und sinkender Werte von „Hospitalisierung“, „Covid-19-Intensivbettenbelegung“ und „Todesfällen an/mit Covid-19“ geschlossen sind, während man unter dem Vorzeichen höherer Werte dieser Indikatoren keine Veranlassung sah, sie zu schließen?
16. Wie kann man als Politiker*in noch glaubwürdig die im Privatbereich erfolgende Gewalt gegen Frauen anprangern, wenn man selbst zur gleichen Zeit staatliche Gewalt gegen Frauen praktiziert, wie sie in der Schließung von Prostitutionsstätten zum Ausdruck kommt, und damit deren ökonomische Existenzvernichtung billigend in Kauf nimmt.
Wer – wie im Falle des § 27 CoSchuV – die Entwicklung eines einzigen Indikators aus dem Zusammenhang des Pandemiegeschehens reißt, ihn zum alleinigen Maßstab für fragwürdige Hotspot-Regelungen macht und ihn auf diese Weise instrumentalisiert und missbraucht, läuft Gefahr und muss sich vorwerfen lassen, durch derartiges Handeln auch legitime staatliche Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung in Misskredit zu bringen. Mit § 27 Hessische CoSchV und der dort vorgesehenen „Schließung von Prostitutionsstätten“ bei Covid-19-Neuoinfektionen von über 350 kommen Maßnahmen zur Anwendung, denen es auf die Stirn geschrieben steht, dass sie nicht sachgerecht, nicht verhältnismäßig, nicht erforderlich und nicht geeignet sind.
Vor diesem Hintergrund unsere letzte Frage an Sie:
17. Wundern Sie sich eigentlich noch, dass sich immer mehr Menschen von einer solchen Politik angewidert abwenden?
In der Hoffnung, dass Sie nachdenklich werden, die Anwendung des § 27 CoSchuV in der jetzigen Form samt der „Schließung von Prostitutionsstätten“ streichen und die Grundrechte von Sexarbeiter*innen in Hessen endlich respektieren, verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Juanita Henning
(Sprecherin von Doña Carmen e.V.)
PS.
Hier verwendete Angaben zur Entwicklung von Covid-19 in Hessen basieren auf Daten des RKI, des DIVI Intensivregisters sowie der John Hopkins Universität. Sie finden sich auf der Website von Doña Carmen e.V.: www.donacarmen.de