Offener Brief an den hessischen Ministerpräsidenten Bouffier

Öffnen Sie die Bordelle in Hessen – jetzt!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bouffier,

Doña Carmen e.V., der Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten, fordert von Ihnen und Ihrer Landesregierung die umgehende Öffnung aller Prostitutionsstätten und Bordelle.

Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hat das Oberverwaltungsgericht Münster / NRW am gestrigen Tag in einer nicht anfechtbaren Entscheidung (13 B 902/20.NE) das in NRW mit Verweis auf Corona erlassene vollständige Verbot der Erbringung sexueller Dienstleistungen für rechtswidrig erklärt.

Es war für das Gericht nicht länger nachvollziehbar, warum man vom Prostitutionsgewerbe – im Unterschied zu anderen körpernahen Dienstleistungen – mittels Tätigkeitsverboten und Zwangsschließungen nach wie vor einen vollständigen Ausschluss von Infektionsgefahren verlangt. Das Verbot sexueller Dienstleistungen innerhalb als auch außerhalb von Prostitutionsstätten sei mit Blick auf das gegenwärtige Infektionsgeschehen weder verhältnismäßig noch notwendig. Statt durch Verbote und Betriebsschließungen sollte Infektionsgefahren im Bereich sexueller Dienstleistungen vielmehr durch „begleitende Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen“ begegnet werden.

Damit schließt sich auch NRW dem Weg an, der zuvor bereits von Bundesländern wie Berlin und Thüringen beschritten wurde und dem mittlerweile auch Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Brandenburg gefolgt sind. Als Reaktion auf das gestrige NRW-Urteil zu sexuellen Dienstleistungen haben auch die Nord-Bundesländer Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern erklärt, die Schließung von Bordellen und das Verbot sexueller Dienstleistungen aufzuheben.

Doña Carmen e.V. begrüßt diese längst überfälligen Entscheidungen. Denn die von verschiedenen Verwaltungsgerichten festgestellten rechtswidrigen Eingriffe in das auch Sexarbeiter/innen zustehende Grundrecht auf freie Berufsausübung sowie in das Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz haben bislang schon den Ruin zahlreicher im Prostitutionsgewerbe tätiger Menschen und die existenzielle Bedrohung von vielen Sexarbeiter/innen zur Folge gehabt. Das muss ein Ende haben!

Hessen zählt seit dem gestrigen Tag – neben Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg – zu den letzten drei Bundesländern, die sich immer noch der Einsicht verschließen, dass man Prostitutionsgewerbe nicht schließen muss, um dem Gesundheitsschutz Genüge zu tun.

Es gibt keine stichhaltigen Gründe mehr dafür, dass Hessen diese verfehlte und für die Betroffenen fatale Position auch nur einen Tag länger beibehalten müsste. Ganz im Gegenteil. Die nordrhein-westfälischen Richter haben ihre Entscheidung u. a. mit dem gegenwärtigen Infektionsgeschehen in NRW begründet. Ausweislich der Angaben des RKI ist leicht erkennbar, dass das Infektionsgeschehen in Hessen sich von dem in NRW nicht grundlegend unterscheidet.

Mit Bezug auf die 7-Tage-Inzidenz bei Corona-Neu-Infektionen (https://www.rki.de/DE/ Content /InfAZ /N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html) unterscheiden sich die Werte in Hessen nicht grundlegend von denen in NRW. Die Werte in Bremen, Berlin und Hamburg lagen in jüngster Zeit vielfach sogar über denen Hessens, was diese Bundesländer nicht daran hindert, Bordelle wieder zu öffnen und sexuelle Dienstleistungen wieder zuzulassen. Nur das Bundesland Hessen sonnt sich in dem zweifelhaften Verdienst, bezüglich nach wie vor bestehender Bordellschließungen zu den Schlusslichtern der Republik zu gehören.

Wir fordern Sie und die von Ihnen geführte Landesregierung auf, dem Beispiel der Mehrheit der Bundesländer zu folgen und umgehend das seit nunmehr 6 Monaten in Hessen geltende, in § 2 der Hessischen Corona-Verordnung verankerte Verbot der Öffnung von „Prostitutionsstätten, Bordellen und Prostitutionsveranstaltungen“ aufzuheben.

Verwaltungsgerichte in ganz Deutschland haben in ihren Urteilen im Zusammenhang ‚Prostitutionsgewerbe / Corona‘ immer wieder versichert, dass die Verordnungsgeber der Länder das aktuelle Infektionsgeschehen zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen und einmal getroffene Festlegungen im Lichte dieser Entwicklung sorgfältig prüfen. Genau das erwarten wir jetzt von Ihnen.

Die im Unterschied zu anderen Bundesländern überlange, nämlich dreimonatige Gültigkeitsdauer der gegenwärtig geltenden hessischen Corona-Verordnung (01.08. – 31.10.2020) lässt erhebliche Zweifel daran aufkommen. Die Gültigkeitsdauer bis Anfang November 2020 wirft die Frage auf, ob Sie und Ihre Landesregierung überhaupt gewillt sind, Ihre Entscheidungen mit der verfassungsrechtlich gebotenen Sorgfalt zu treffen und die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf nach wie vor aufrechterhaltenen Bordellschließungen zu prüfen.

Daher appellieren wir an Sie:

Heben Sie die Untersagung des Betriebs von Prostitutionsgewerben umgehend auf!

Sorgen Sie dafür, dass sexuelle Dienstleistungen mit anderen körpernahen Dienstleistungen gleichbehandelt werden!

Vor dem Hintergrund der jüngsten Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (Lv 15/20 vom 28.08.2020), die die Kontaktdatennachverfolgung dort für verfassungswidrig erklärt hat, erachten wir es für angebracht, bei der überfälligen Wiedereröffnung von Bordellen von einer Kontaktdaten-Nachverfolgung im Prostitutionsgewerbe Abstand zu nehmen. Anstatt diese Aufgabe – mit allen Unwägbarkeiten hinsichtlich des Datenschutzes – auf Private zu übertragen, sollte sie in staatlicher Regie von den zuständigen Gesundheitsämtern in Zusammenarbeit mit den von Corona-Infektionen Betroffenen geleistet werden.

Jede auch nur einen Tag länger währende Schließung von Prostitutionsbetrieben in Hessen ist vor dem Hintergrund der jüngsten Entscheidungen in fünf Bundesländern nicht weiter nachvollziehbar. Gegenüber den betroffenen Sexarbeiter/innen, mit denen wir tagtäglich in unserer Beratung zu tun haben, wäre eine weitere Verunsicherung durch Beibehaltung von Bordellschließungen unzumutbar und schändlich.

 

Wir erwarten daher, dass Sie und Ihre Landesregierung jetzt handeln und nicht erst durch Gerichtsurteile zu einem verfassungskonformen Umgang mit dem Recht auf freie Berufsausübung im Falle von Sexarbeit gedrängt werden müssen.

Mit freundlichen Grüßen

Juanita Henning

(Sprecherin Doña Carmen e.V.)