Offener Brief an die Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen

Sehr geehrte Frau Grabe-Bolz,

nach unseren Informationen hat die Gießener Verwaltung unter ihrer politischen Verantwortung die seit Juli 2017 gesetzlich vorgeschriebene Zwangsregistrierung von Sexarbeiter/innen für den Landkreis Gießen übernommen und in diesem Zusammenhang die Organisation FiM vertraglich verpflichtet, die obligatorischen „Informations- und Beratungsgespräche“ mit den betroffenen Personen zu führen.

Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass das Outsourcen hoheitsstaatlicher Aufgaben an private Dritte den rechtlichen Vorgaben des Prostituiertenschutzgesetzes in § 3, § 7 etc. widerspricht, wonach das fortan obligatorische „Informations- und Beratungsgespräch“ eindeutig eine behördliche Aufgabe ist. Das bestätigen auch entsprechende Ausführungen des Bundesfamilienministeriums:

„Die Anmeldebehörde führt in einem vertraulichen Rahmen ein Informations- und Beratungsgespräch, um Prostituierte über ihre Rechte und Pflichten und über weitere Angebote zu informieren.“

„Externe Dienstleister“ wie FiM können nur im Einzelfall, wenn eine Sexarbeiterin dies ausdrücklich wünscht, zu solchen Gesprächen „hinzugezogen“ werden. Derartige Gespräche können aber nicht einer privaten Organisation anstelle der Behörde übertragen werden, wie es in Gießen der Fall ist, wo die Stadt sich dieser Aufgabe vertraglich entledigt hat.

In der öffentlichen Debatte wird hervorgehoben, dass Fachberatungsstellen besser als Behörden in der Lage seien, sprachlichen Hürden bei Prostitutionsmigrantinnen zu überwinden und ein Vertrauensverhältnis zu Sexarbeiter/innen herzustellen.

Wir bezweifeln eine solche Argumentation, die nur den Zweck verfolgt, die Nichteinhaltung unmissverständlicher gesetzlicher Vorgaben zu bemänteln.

Für die Sprachmittlung können Behörden Dritte zwar auch ohne Zustimmung der Sexarbeiterinnen „hinzuziehen“, nicht aber ihnen die hoheitliche Aufgabe gänzlich übertragen. Zur Überwindung von Sprachschwierigkeiten gibt es zudem reichlich Alternativen. Was das angebliche „Vertrauensverhältnis“ von Sexarbeiter/innen zu FiM betrifft, haben wir gehörige Zweifel. Denn die Organisation FiM stigmatisiert Sexarbeiterinnen permanent als so genannte „Armutsprostituierte“, als wenn es eine Schande wäre, sich mit Arbeit aus Armut zu befreien.

Zudem lässt diese Organisation keine Gelegenheit aus, insbesondere migrantischen Sexarbeiter/innen zu unterstellen, dass sie in der Regel nicht dazu in der Lage seien, „ihr Leben in Deutschland selbst zu organisieren“. Hier werden in pauschalisierender Weise Klischees bedient, um Überwachung und Repression zu legitimieren und die eigene Unersetzlichkeit zu unterstreichen. Wie das zu mehr Vertrauen der Sexarbeiter/innen führen soll, bleibt ein Geheimnis.

Wir möchten Sie ferner darauf hinweisen, dass das Prostituiertenschutzgesetz ausweislich der Gesetzesbegründung für das Informations- und Beratungsgespräch nicht nur einen vertraulichen, sondern zudem einen „neutralen und vertraulichen Rahmen“ fordert. Die vertragliche Einbindung einer Organisation wie FiM widerspricht auch dieser Vorgabe. Denn das Handeln von FiM ist ausweislich ihrer Satzung von christlicher Prostitutionsgegnerschaft geprägt. So heißt es in der FiM-Satzung:

„Zweck des Vereins ist, auf der Grundlage des Verständnisses des Menschen als Ebenbild Gottes, alle Ansätze zu fördern, die darauf hinwirken, Menschen – besonders Frauen – vor Käuflichkeit und Entwürdigung zu schützen. Er wird damit in praktischer Ausübung christlicher Nächstenliebe im Sinne der Diakonie tätig.“

Die Entscheidung, FiM vertraglich mit der regulären Abwicklung des „Informations- und Beratungsgesprächs“ zu beauftragen, ist etwa genauso „neutral“, als würde man die Deutsche Umwelthilfe mit der Zulassung von Diesel-Fahrzeugen betrauen.

Als Organisation, die sich seit vielen Jahren für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten einsetzt und in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde gegen das so genannte „Prostituiertenschutzgesetz“ initiiert hat, möchten wir von Doña Carmen e.V. Sie vor dem Hintergrund der hier vorgetragenen Sachverhalte auffordern, die vertraglichen Beziehungen zu FiM umgehend aufzulösen.

Wenn die Gießener Stadtverwaltung außerstande ist, ohne Zuhilfenahme Dritter das Prostituiertenschutzgesetz umzusetzen, dann sollte sie mit Verweis auf die bevorstehende Entscheidung des Verfassungsgerichts die Umsetzung des Gesetzes aussetzen. Das wäre der Sache angemessen und ehrlicher.

Es ist schon schlimm genug, dass erstmals seit dem Frick-Heydrich Erlass unter den Nationalsozialisten im Jahre 1939 Sexarbeiter/innen wieder staatlich registriert werden. Aber es haut dem Fass den Boden aus, wenn christlich motivierte Prostitutionsgegner offiziell in diese Registrierungs-Praxis eingebunden und mit hoheitsstaatlichen Aufgaben betraut werden, wie Sie es in Gießen – bundesweit einmalig – glauben tun zu dürfen.

Wir möchten Sie auffordern, die inkriminierte Praxis zu überprüfen und umgehend einzustellen. Sollte dies nicht geschehen, wird Doña Carmen e.V. die geeigneten rechtlichen Schritte unterstützen, um dieses Ziel zu erreichen.

Mit freundlichen Grüßen

Juanita Henning
(Sprecherin Doña Carmen e.V.)