NEIN zum ungebremsten Abbau der Grundrechte von Sexarbeiter*innen!
Doña Carmen e.V., Verein für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten, sieht die Grundrechte von Sexarbeiter*innen mit der Verabschiedung eines „Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ ein weiteres Mal unverhältnismäßig eingeschränkt. Aus diesem Grund lehnt Doña Carmen e.V. diese gesetzliche Neuregelung entschieden ab.
Wie andere Menschen in diesem Land auch, werden Sexarbeiterinnen immer weiter in die Rolle von Untertanen gedrängt, die sich – unter Androhung empfindlicher Bußgelder von bis zu 25.000 € – für die Inanspruchnahme ihrer Grundrechte gegenüber staatlichen Instanzen auch noch rechtfertigen müssen.
Dass sich bundeseinheitliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus ausschließlich am Inzidenzwert orientieren sollen, missachtet die Tatsache, dass positive PCR-Tests keine verlässlichen Aussagen über den Gesundheitszustand oder eine mögliche Infektiösität getesteter Personen erlauben. Der ausschließlich Bezug auf einen solchen Wert ist daher denkbar ungeeignet zur Rechtfertigung massiver Grundrechtseinschränkungen.
Die bloß an den Inzidenzwert gekoppelten staatlichen Eingriffsmaßnahmen sind auch ungeeignet, Corona „effektiv einzudämmen bzw. „schnell abzuschwächen“, wie es das Infektionsschutzgesetz in seiner bestehenden Fassung vorsieht. Der einzige zu erwartende Effekt sind ständige Jo-Jo-Lockdowns um die Marke von „100“, die befürchten lassen, dass die Bereitschaft der Menschen zu sinnvollen, nachhaltigen Gegenmaßnahmen gegen Corona systematisch untergraben werden.
Obwohl es überhaupt nicht erwiesen ist, dass das Ansteckungsrisiko nachts größer ist als tagsüber, beschließt die Mehrheit des Bundestags nächtliche Ausgangsbeschränkungen. Diese werden insbesondere Sexarbeiter*innen treffen. Denn Sexarbeit findet bekanntlich oft zu Abend- und Nachtzeiten statt. In acht Bundesländern ist gegenwärtig die Ausübung der Prostitution außerhalb konzessionierter Prostitutionsstätten erlaubt. Dabei handelt es sich um die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dort wird also mit der erneuten Änderung des Infektionsschutzgesetzes die Ausübung von Prostitution jetzt weitgehend kriminalisiert. Illegalisierte Sexarbeiter*innen werden in den Untergrund abgedrängt.
Obwohl die Bundesregierung hinsichtlich Sars-CoV-2 selbst nach einem Jahr mangels gesicherter Erkenntnisse immer noch von einem „diffusen Infektionsgeschehen“ spricht, bei dem „oft keine konkrete Infektionsquelle ermittelt werden“ könne (Gesetzesbegründung, S. 8), maßt sich die Bundestagsmehrheit der CDU/SPD-geführten Bundesregierung an, gezielt die Öffnung von „Freizeiteinrichtungen“ zu untersagen, zu denen auch „Prostitutionsstätten und Bordellbetriebe“ gezählt werden. Diese Maßnahme erfolgt, ohne dass es einen einzigen empirischen Beleg dafür gibt, dass die von der Regierung als „nicht notwendige Verrichtungen des alltäglichen Lebens“ herabgestuften Betätigungen in besonderem Maße zur Verbreitung von Corona beitragen.
Undifferenziert werden zudem im Gesetzentwurf der Bundesregierung „Prostitutionsstätten und Bordellbetriebe“ mit Spaßbädern und Diskotheken in einem Atemzug genannt und ihr Betrieb vorsorglich bis zum 30. Juni 2021 untersagt. Belege dafür, dass 1:1-Kontakte bei sexuellen Dienstleistungen in Prostitutionsstätten, die dort in der Regel in Einzelzimmern stattfinden, eine unbeherrschbare Ausbreitung von Corona auslösen, gibt es nicht. Gleichzeitig werden Zusammenkünfte, die der Religionsausübung dienen, selbstverständlich von sämtlichen Beschränkungen ausgenommen.
Zu glauben, Prostitutionsverbote erfolgten ausschließlich mit Blick auf die aktuell hohen Corona-Inzidenzwerte und zielten auf die Eindämmung von Covid-19, ist blauäugig und naiv. Bekanntlich wurden Prostitutionsstätten bundesweit auch im vergangenen Frühjahr geschlossen. Sie blieben selbst dann geschlossen, als die 7-Tages-Inzidenzen bei weit unter 10 / 100.000 Einwohnern lagen. Die Öffnung der Bordelle musste erst vor Gericht erstritten und den staatlichen Stellen regelrecht abgetrotzt werden – und zwar zu einem Zeitpunkt, als die 7-Tages-Inzidenz in den Bundesländern bereits einen ausgesprochen niedrigen Wert hatte.
In Bayern erfolgte die von Betroffenen erzwungene Öffnung der Bordelle bei einem 7-Tages-Inzidenzwert von gerade einmal 3,7 pro 100.000 Einwohnern (16.07.2020). In Berlin bei einem Wert von 9,0 (16.07.2020), in Brandenburg bei einem Wert von 1,5 (03.09.2020), in Bremen bei einem Wert von 9,4 (15.09.2020), in Niedersachsen bei einem Wert von 7,0 (15.09.2020), in NRW bei einem Wert von 8,6 (09.09.2020), in Rheinland-Pfalz bei einem Wert 10,0 (01.10.2020), im Saarland bei einem Wert von 3,6 (09.08.2020), in Sachsen bei einem Wert von 3,4 (01.09.2020), in Sachsen-Anhalt bei einem Wert von 4,2 (28.08.2020) und in Thüringen bei einem Wert von 2,2 (20.08.2020). Lediglich in Hamburg (13,7) und in Baden-Württemberg (29,0) erfolgte die Öffnung bei einem Inzidenzwert von über 10 pro 100.000 Einwohnern.
Ein Blick auf diese Größenordnungen verdeutlicht: Es sind im Falle von Prostitution nicht hohe Corona-Inzidenzwerte, die Anlass für regierungsamtliche Besorgnis und staatliches Handeln sind. Ein differenzierter Umgang mit der Corona-Bedrohung war bislang nicht die Richtschnur staatlichen Handelns gegenüber dem Prostitutionsgewerbe.
Mit Sorge sieht Doña Carmen e.V. daher eine Anti-Prostitutions-Agenda, die klammheimlich im Windschatten der Covid-19-Krise verfolgt wird. Mit Gesundheitsschutz hat das wenig zu tun. Dieser fragwürdigen Logik folgt auch das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Es kann daher nicht als angemessene Maßnahme zum Schutz vor Covid-19 gelten.