FiM raus aus der Zwangsberatung von Sexarbeiter/innen!

Keine „Informations- und Beratungsgespräche“ mit Sexarbeiter/innen durch christlich motivierte Prostitutionsgegner in Gießen und auch nicht anderswo!

Seit dem 1. Juli 2017 ist das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft, das erstmals seit der Nazizeit wieder eine Zwangsregistrierung von Sexarbeiter/innen vorsieht. Diese Zwangsregistrierung ist verbunden mit so genannten „Informations- und Beratungsgesprächen“, die von den Sexarbeiter/innen je nach Alter in jährlichem bzw. zweijährlichem Abstand wiederholt werden müssen.

„Informations- und Beratungsgespräche“, die u. a. der Ausforschung von Sexarbeiter/innen dienen, sind laut Prostituiertenschutzgesetz in staatlicher Regie von öffentlichen Behörden durchzuführen. Die Stadt Gießen hat sich – unseres Wissens bundesweit einmalig – dieser Aufgabe entledigt und sie mit Beginn des Jahres 2018 an die Organisation FiM („Frauenrecht ist Menschenrecht“), einen privaten Verein christlich motivierter Prostitutionsgegner, übertragen.

Der vom Prostituiertenschutzgesetz versprochene „neutrale und vertrauliche Rahmen“ für derartige „Informations- und Beratungsgespräche“ hat sich mit der vertraglichen Einbindung solcher Organisationen wie FiM natürlich erledigt. Die Beauftragung einer solchen Organisation ist nichts anderes, als würde man Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz mit Schwangerschaftskonfliktberatung betrauen.

Es ist schon schlimm genug, dass erstmals seit dem Frick-Heydrich Erlass unter den Nationalsozialisten im Jahre 1939 Sexarbeiter/innen wieder staatlich registriert werden. Aber es haut dem Fass den Boden aus, wenn christlich motivierte Prostitutionsgegner offiziell in diese Registrierungs-Praxis eingebunden und mit hoheitsstaatlichen Aufgaben betraut werden.

Doña Carmen e.V. lehnt das Outsourcing hoheitsstaatlicher Aufgaben an Private ab. Wir sind der Auffassung, dass die unsägliche und zudem illegale Praxis der Stadt Gießen nicht hingenommen werden kann.

Deshalb hat Doña Carmen e.V. am 7. Juni 2018 in einem „Offenen Brief“ an die Gießener Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz (SPD) gefordert, die inkriminierte Praxis zu überprüfen und umgehend einzustellen. Das jedoch hat OB Grabe-Bolz am 21. Juni 2018 in einem Schreiben an Doña Carmen e.V. mit der Begründung abgelehnt, dass die Informations- und Beratungsgespräche nicht nur der Informationsweitergabe an Sexarbeiter/innen dienen, sondern auch der Ausforschung, ob sie zur Prostitution gezwungen oder ausgebeutet werden. Dazu sei die Organisation FiM aufgrund des „großen Erfahrungsschatzes der Beraterinnen“ bestens geeignet. Ihre Schlussfolgerung:  „Aufgrund der durchweg positiven Erfahrungen mit FiM ist auch zukünftig geplant, nichts an der Durchführungspraxis der Informations- und Beratungsgespräche zu ändern.“ (Schreiben vom 21. Juni 2018 an Doña Carmen e.V.)

Doña Carmen e.V. ist bekannt, dass sich die Organisation FiM in bestimmten Kreisen in Hessen großer Beliebtheit erfreut. FiM ist seit vielen Jahren in die polizeiliche Überwachung der Prostitution eingebunden. Seit 1999 ist FIM die „Hessische Koordinierungsstelle“ in der Arbeit gegen Menschenhandel und kooperiert in diesem Kontext mit dem LKA. Jährlich lädt FiM zu einem Fachaustausch zwischen Fachberatungsstellen und Polizei aus allen hessischen Polizeipräsidien ein. Diese Treffen wurden von FIM initiiert und koordiniert. FiM-Geschäftsführerin Niesner befürwortet Polizeirazzien im Prostitutionsgewerbe und gibt der Polizei Tipps hinsichtlich der Effektivierung solcher Razzien. 2007 hat FiM zusammen mit dem Bundeskriminalamt an einem so genannten „Runden Tisch Prostitution der Stadt Marburg“ einen ganzen Katalog repressiver Überwachungsstrategien gegenüber Sexarbeiter/innen und dem Prostitutionsgewerbe ausgearbeitet, die zehn Jahre später in das so genannte Prostituiertenschutzgesetz eingeflossen sind. Selbstredend lobt FiM dieses reaktionäre Gesetz über den Klee und beteiligt sich gerne an dessen Umsetzung.

Was die Organisation FiM („Frauenrecht ist Menschenrecht“) in ihren Stellungnahmen bezüglich Sexarbeit und Prostitution auszeichnet, ist

  • die christliche Ausrichtung gegen Prostitution;
  • das Verbreiten ausschließlich negativer, unterm Strich rassistischer Stereotype über migrantische Sexarbeiter/innen;
  • die ständige Dramatisierung von Verhältnissen in der Prostitution im Widerspruch zu nachprüfbaren Fakten;
  • das Auftreten als Lobby-Organisation für die staatliche Bevormundung von Sexarbeiter/innen
  • der einseitige Fokus auf Prostitutions-Ausstieg.

Im Jahr 2016 hat sich FiM maßgeblich dafür eingesetzt, das über viele Jahre vorgehaltene Angebot eines Nachtbusses für Sexarbeiter/innen am Frankfurter Straßenstrich einzustellen.

Von der gesetzlich geforderten „Neutralität“ gegenüber Prostitution in „Informations- und Beratungsgesprächen“ kann unter Berücksichtigung all dieser Umständen bei FiM nicht die Rede sein.

Doña Carmen e.V. kritisiert zwei Punkte:

(1)  Die Gießener Praxis der Privatisierung von Beratungsgesprächen mit Sexarbeiter/innen ist illegal.

(2)  Die Organisation FiM bietet keine Gewähr für Neutralität im Umgang mit Sexarbeiter/innen und ist für die Betroffenen im Rahmen von „Informations- und Beratungsgesprächen“ eine Zumutung.

Was den ersten Punkt betrifft, so hat Doña Carmen e.V. im August 2018 vor dem Hintergrund des hier Dargestellten gegenüber der Stadt Gießen Antrag auf Auskunftserteilung nach §§ 80, 85 Hessisches Datenschutz- und Informationsfreiheitsgesetz (HDSIG) gestellt, um Auskunft darüber zu erhalten, welches Rechtsverhältnis zwischen der Stadt Gießen und der Beratungsstelle Frauenrecht ist Menschenrecht (FiM) im Zusammenhang mit der Beratung nach § 7 ff. ProstSchG besteht.

Auf dieses Schreiben hat die Stadt Gießen bislang nicht geantwortet.

Was den zweiten Punkt betrifft, hat Doña Carmen e.V. die von FiM zu Sexarbeiter/innen und Prostitution vertretenen Positionen zusammengestellt, sodass sich jede/r von der Berechtigung der von Doña Carmen vorgetragenen Kritikpunkte überzeugen kann.

Wir appellieren hiermit an aufgeklärte Menschen, das von Doña Carmen e.V. gegenüber der Stadt Gießen vorgetragene Anliegen durch eigene Initiativen und öffentliche Stellungnahmen zu unterstützen.

Anhang:

–  Schreiben der Gießener Oberbürgermeisterin Frau Grabe-Bolz an Doña Carmen e.V.
21.06.18 – Antwort Gießen an DC

– Doña-Carmen-Zusammenstellung der Positionen von FiM zu Sexarbeit und Prostitution
02 MATERIALSAMMLUNG FiM

– Frick-Heydrich-Erlass 1939
Frick-Heydrich-Erlass v. 9. Sept.1939